Reden wir mal nicht über das Millionengrab Stuttgart 21, Geheimabsprachen im BaWü-Koalitionsvertrag oder die alarmierend hohen Feinstaubwerte im Talkessel. Stuttgart ist Kulturstadt Nummer eins! Zum dritten Mal in Folge!
Nicht Frankfurt, nicht München und schon gar nicht Berlin – ausgerechnet Stuttgart soll die deutsche Kulturhauptstadt sein. Zu diesem Ergebnis gelangt jedenfalls das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), das alle zwei Jahre die 30 größten Städte im Hinblick auf ihr Kulturleben untersucht. Dabei werden in einer quantitativen Studie Faktoren wie die Anzahl sozialversicherungspflichtiger Kulturarbeiter, Kinoplätze pro Einwohner, Theater- und Opernbesucher sowie Ausgaben für öffentliche Bibliotheken gegeneinander aufgerechnet. Man kann die Aussagekraft solcher Studien mit einigem Recht anzweifeln. Kultur sollte doch besser qualitativ bewertet werden, möchte man einwenden. Überraschend ist dennoch, dass ausgerechnet diese wenig libertäre Ingenieurstadt im Sparerländle Baden-Württemberg den ersten Platz erobern konnte.
Aus dem Kunstmuseum Stuttgart hat man einen schönen Blick auf die großen Kulturinstitutionen der Stadt: rechts vom Schloss das Landesmuseum, links davon der Kunstverein, schräg dahinter das Staatstheater und wieder dahinter, leicht erhöht, die Staatsgalerie in James Stirlings postmodern-schriller Optik. Der Kooperationswille und der Austausch der Häuser seien hervorragend, sagt Kurator Sven Beckstette, die Förderungsbedingungen von Land und Stadt exzellent. Da das Land unter anderem Staatstheater und Staatsgalerie unterhält, hat die Stadt Gelder frei für eigene Häuser. Nicht nur im badischen Part des Bundeslands, der sich traditionell von den Württembergern übervorteilt sieht, schaut man da zerknirscht gen Stuttgart
Ostalgisch durchtränkt
Beckstette hebt besonders das innovative Atelierprogramm der Stadt hervor, das unkompliziert selbst gesuchte Ateliers bezuschusst. „Was uns als Kunstinstitutionen fehlt, ist so ein bisschen eine übergeordnete, überregionale Berichterstattung.“
Über mangelnde mediale Wahrnehmung beschwert sich gut 600 Meter nordöstlich, im Staatstheater, niemand. Das im Schlossgarten gelegene Dreispartenhaus beherbergt das Stuttgarter Ballett, das Schauspiel und die Oper Stuttgart. Reid Andersons Tanzkompanie gehört schon lange zu den besten des Landes, und auch die Oper schreibt unter der Intendanz von Jossi Wieler an einer Erfolgsgeschichte: In der vergangenen Spielzeit kamen 14.000 Besucher mehr, zudem ging der Titel „Opernhaus des Jahres“ nach Stuttgart. Armin Petras hingegen, als Intendant des Schauspiels der dritte Mann im Hause, spürt zurzeit etwas Gegenwind. Nachdem er 2013, vom Berliner Maxim-Gorki-Theater kommend, die Stadt in seiner ersten Spielzeit im Sturm genommen hatte, nörgelten die Kritiker im folgenden Jahr über „Drauflos-Ästhetik“ und die „ostalgisch durchtränkte Präsenz auf dem Spielplan“. Zuschauer blieben weg, Abos wurden gekündigt. „Gegenwind gibt’s immer“, winkt Petras ab, aber er hat verstanden – in der Schaffe-schaffe-Stadt Stuttgart wird man nicht gern daran erinnert, dass das eigentliche Leben anderswo spielt. Mit Eduard Mörikes Hutzelmännlein und den Ehen in Philippsburg nach Martin Walser steht nun entsprechend viel Schwäbisches auf dem Spielplan.
Momentan werkelt Petras übrigens an Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt – für die Oper. Und Opern-Chef Wieler inszeniert am Schauspiel Armin Petras’ Stück I’m searching for I:N:R:I (eine kriegsfuge). „Im Großen und Ganzen kennen sich hier alle Kulturschaffenden, da gibt es schon einen engeren Zusammenhang, teilweise auch einen engeren Zusammenhalt“, sagt Petras. „In Berlin nimmt man sich natürlich wahr, aber die örtliche Entfernung beziehungsweise die Gräben sind schon sehr groß – das ist hier in Stuttgart anders.“
Dass Armin Petras überhaupt noch im Schlossgarten residiert, darf getrost als Hinweis genommen werden, dass Stuttgart kulturpolitisch einiges richtig macht. Offensiv verlängerte die grüne Wissenschafts- und Kulturministerin Theresia Bauer seinen Vertrag im vergangenen Jahr vorzeitig – trotz der zahlenmäßig eher bescheidenen Spielzeit. Mit Petra Olschowski, vormals Rektorin der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, steht Bauer seit Mai zudem eine hoch angesehene Staatssekretärin zur Seite. Mit ihrer Kommunikationsstärke und einer Berufsauffassung als helfende Partnerin der Kulturschaffenden im Ländle ist Olschowski so etwas wie der Gegenentwurf zu ihrem Berliner Pendant Tim Renner, der seit seiner Inthronisierung den Projektmacher gibt, durch Volksbühne und Staatsballett pflügt und bereits nach zwei Jahren im Amt kaum noch jemanden aus der Kulturszene hinter sich weiß.
Wie gut es der Kulturszene einer Stadt wirklich geht, erfährt man jedoch eher außerhalb der großen, prestigeschweren Institutionen. Gegenüber vom Staatstheater liegt mit dem Württembergischen Kunstverein einer der interessantesten und widerborstigsten Kunstorte des Landes. Dessen hochkomplexe Ausstellung Die Bestie ist der Souverän wurde vom Kunstkritikerverband AICA 2015 zur Ausstellung des Jahres gewählt und erregte auch international Aufsehen. Beim spanischen Kooperationspartner MACBA (Museu d’Art Contemporani de Barcelona) kostete sie zwei Kuratoren und den Direktor den Job – eine Skulptur von Ines Doujak zeigte den ehemaligen König Juan Carlos beim Analverkehr mit einer bolivianischen Gewerkschafterin und einem Deutschen Schäferhund. Aktuell zeigt der Kunstverein Doujak in einer Soloausstellung. Den Mund verbieten lässt man sich hier nicht.
Das knallbunte Allerlei von Ines Doujak ist eher untypisch für den Kunstverein, dessen Ausstellungen ansonsten kleinteilig, diskurslastig und sperrig im besten Sinn des Worts sind. Allerdings, betont Co-Direktorin Iris Dressler, sei man weit mehr als eine Plattform für zeitgenössische Kunst. Nach und nach wurde das Haus für die lokale Kunstszene und zivilgesellschaftliche Gruppen geöffnet, inzwischen finden dort etwa 150 Veranstaltungen pro Jahr statt. Dieser Prozess begann 2010, als im Schlossgarten, direkt am Kunstverein, die Proteste gegen Stuttgart 21 aufloderten. „Während wir eine Ausstellung über politisches Design in Asien vorbereiteten, tobte draußen der Bär. Irgendwann haben wir gesagt, wir können nicht eine derart politische Ausstellung machen und so tun, als wäre hier nix!“ Kurzum, man entschloss sich, das Haus diversen Aktionsbündnissen zur Verfügung zu stellen. „Uns war wichtig, Position zu beziehen, weil vielen staatlichen und städtischen Einrichtungen ganz offiziell ein Maulkorb verpasst wurde.“ Der Verein hat sich damit nachhaltig als kulturelles Widerlager in der Stadt verankert.
Offene Räume sind auch für die Kunstproduktion in Stuttgart dringend notwendig. Kulturschaffende ächzen unter hohen Lebenshaltungskosten und absurden Mietpreisen, gut zwei Euro mehr zahlt man hier für den Quadratmeter als in Berlin. Die junge Schwedin Fatima Hellberg leitet seit zwei Jahren das Künstlerhaus, einen Ende der 1970er von Künstlern geschaffenen Hybrid aus Ateliers und Ausstellungsfläche im Stuttgarter Westen. Mit dem Architekten Simon Jones erarbeitet sie gerade eine räumliche Öffnung des Hauses, um die Raumnot in der Stadt kreativ zu kanalisieren. „Das Ausmaß an Kollaborationen zwischen Disziplinen und Institutionen, die Anzahl von Künstlern, Schriftstellern, Musikern und anderen Leuten, die interessante Sachen machen, ist erstaunlich hier. Die Herausforderung ist gerade, diese Leute zu halten“, benennt Hellberg das Problem.
Schon gekündigt
Auf der anderen Seite der Stadt zeigt der Projektraum ITO, wie Kunstproduktion mit räumlicher Beschränkung schon jetzt funktioniert. Peter Granser betreibt den Ausstellungsraum, der ihm unter der Woche als Atelier dient. Das Geld kommt zur Hälfte aus dem städtischen Atelierprogramm, der Rest aus anderen Töpfen. Die räumliche Enge des ITO nutzt der Fotograf, um einen konzentrierten Zugang auf wenig gezeigte Werke, meist Fotografie oder Klang, herzustellen. Wie lange noch, ist offen. Für sein Materiallager hat Granser kürzlich schon die Kündigung bekommen.
Das mag zwar schade für das Kulturleben am Neckar sein. Auf Stuttgarts künftigen Status als deutsche Kulturhauptstadt wird das jedoch keinen Einfluss haben. Die hohe Dichte an Projekträumen, die Leute wie Peter Granser in ihrer Stadt schaffen, berücksichtigt das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut in seiner Studie nicht.
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