Texten zur Kunst

Ausstellung Auf der 13. Kasseler documenta unterwirft sich niemand einer politischen Agenda – zum Glück

Es ist nicht nur viel Zeit vergangen, seit der letzten documenta vor fünf Jahren. Finanzkrise und die großen Protestwellen Occupy und Arabellion haben die Welt durcheinandergeschüttelt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass von von der 13. documenta eine scharfe Abgrenzung zur letzten, von Roger M. Buergel doch recht brav konzipierten Kunstschau erwartet wurde. Und bei allem, was man bisher weiß, macht die künstlerische Leitung um Carolyn Christov-Bakargiev mit dem Motto „collapse and recovery“ durchaus Ernst (siehe auch Porträt im Freitag von letzter Woche). Bereits die Mitte Mai lancierte Liste der teilnehmenden Künstler strich die Presse auf die Adjektive „weiblich, politisch, links“ zusammen. Das mag zwar nicht falsch sein, unterschlägt aber die thematischen Schlaglichter, die das Kuratorium mit Zusammenbruch und Wiederaufbau auch setzen möchte.

Grob zusammengefasst lassen sich die Aufhebung der Grenzen von Kunst und Wissenschaft, eine Konzentration auf politische Konflikträume, der Wunsch nach Durchdringung neuer Kommunikations-Technologien, eine Rückkehr zur Natur sowie eine Hinwendung zur Theorie als Schwerpunkte ausmachen. Letzteres ist sicherlich das deutlichste Signal an die Kunstszene, die sich im letzten Jahrzehnt immer mehr zu einer Kunstbörse entwickelt hat. Wenn die documenta ihrer Eröffnung also ein vielstimmiges Textcorpus aus hundert Notizbüchern vorschaltet, ist das durchaus so zu verstehen, dass es zukünftig nicht mehr ausreicht, wie einst Damien Hirst einen Tigerhai in Formaldehyd zu schmeißen.

Denkendes Sprechen

Wer das Gedankengebäude hinter der diesjährigen documenta verstehen will, dem sei das Notizbuch von Christov-Bakargiev Brief an einen Freund empfohlen, in dem sich fiktional verschleiert das kuratorische Programm findet: „Die documenta entstand zu einer Zeit, als sich die formale und ästhetische Freiheit der Nachkriegszeit parallel zur Wiederherstellung einer liberalen Wirtschaftsordnung entwickelte. Heute dagegen bietet die documenta eine Plattform, auf der die drastischen, häufig negativen Folgen einer allzu liberalen Ökonomie mit den Mitteln der Kunst beziehungsweise Kultur verhandelt werden.“ Eine Engführung von Kunst und Markt, wie sie inzwischen auf Hunderten Kunstmessen erfolgt, soll in Kassel also nicht stattfinden. Christov-Bakargiev hofft dies durch zweierlei zu erreichen. Zunächst durch einen „langsameren Takt“ im Ablauf, einer aus sich selbst gefallenen Zeit, die sich vom Effizienzdenken der Produktivgesellschaft abnabelt; diese andere Taktung soll durch einige dynamische Installationen thematisch aufgegriffen werden.

Damit dieser Abgrenzungsgestus kein Lippenbekenntnis bleibt, folgt dem Austritt aus der Produktionszeit die Abwendung von einer Kunst als Produkt. Auf kreativen Prozessen mit all ihren Kurven und Geraden soll das Augenmerk liegen, nicht so sehr auf Inhalten oder gar Ergebnissen. Mit anderen Worten: Viel Kunst wird auf der diesjährigen documenta ohne Werk auskommen müssen. Doch wie hat man sich das vorzustellen?

Es schwant einem schnell, dass der Prozess des kommunikativen Austausches („Denkendes Sprechen“) einen höheren Stellenwert haben könnte als die ausgetauschte Information selbst. Bei diesem kuratorischen Programm kann es kein Zufall sein, dass die Teilnahme der internationalen Kunstinitiative AND AND AND relativ früh bekannt gemacht wurde, gehen in ihr doch die thematischen Schwerpunkte der Ausstellung mit einem prozessuralen Verständnis des Kunstmachens zusammen. Hinter der dreifachen Konjunktion steht eine Gruppe von Künstlern, die sich online organisiert, global operiert und der theoretisch jeder beitreten kann. Eine reine Graswurzelbewegung, die über neueste Technologien basisdemokratisch Kunst verhandelt, ist AND AND AND allerdings nicht. Lediglich ein Kern anonymer Mitglieder kümmert sich um die künstlerische Ausrichtung der Initiative, die vornehmlich Diskussionen ‚produziert‘. Für eine solche kollektivistische Vereinigung nicht untypisch ist die defensive Pressearbeit. Während Interviewanfragen selbst über das documenta-Pressezentrum ins Leere laufen, erleben Kassels Bewohner die Initiative als rege und gesprächig. In bisher zwei Diskussionsveranstaltungen mit über dreihundert Besuchern wurde unter der Leitfrage „Wie sieht eine Kultur der Gemeingüter aus?“ über Zwischennutzung, Permakulturen und Allmenden diskutiert. Wer sich dabei an Occupy erinnert fühlt, liegt sicherlich nicht völlig falsch: Die Initiative möchte den Geist der jüngeren Selbstermächtigungsbewegungen aufnehmen und weitertragen, auch ins Herzland der Austerität.

Produziert wird dabei, von wabernden Diskursformationen abgesehen, eigentlich nichts, doch genau diese Einbindung in Denk- und Diskussionsverfahren samt Ausweitung der Kunst aufs Ganze scheint Christov-Bakargiev mit ihrer documenta bewirken zu wollen. AND AND AND jedenfalls wollen ein Netzwerk schaffen, das als Commoning in Kassel auch nach Ablauf der hundert Tage Fragen, die das Gemeingut betreffen, diskutiert und das nötigenfalls auch konkret agiert. Vielleicht folgt nach 7000 Eichen, die Joseph Beuys 1982 in Kassel pflanzte, die nächste soziale Plastik, die das Stadtbild nachhaltig verändert. Ob das die Kasseler freuen wird?

Die Retina streicheln

Doch ausschließlich geredet werden soll auf der documenta auch nicht. Zwei größere Installationen in der Karlsaue haben sich bereits länger der Geheimhaltung entzogen. Gareth Moore hat dort zahlreiche Hütten aus verschiedensten Materialien gezimmert, was dem Park einen Hauch Aussteigerromantik beschert. Sein chinesischer Kollege Song Dong hat am gleichen Ort einen großen Haufen Abfall aufschütten lassen, der allerdings unter einem bepflanzten Erdmantel nicht mehr als solcher zu erkennen ist. Dieser Doing nothing garden lässt sich sowohl als kritischer Kommentar auf die Gepflogenheiten der Müllentsorgung als auch handlungsleitend als Abfallnutzung zur Schaffung eines Raumes lesen, an dem der eingangs erwähnte langsamere Takt des Müßiggangs herrscht. Räumlich und thematisch in der Nähe stoßen kunstinteressierte Spaziergänger auf einen Kräutergarten, angelegt von Pierre Huyghe. Der Franzose, der bereits vor zehn Jahren in Kassel ausstellte, hat bei seiner diesjährigen Auswahl den Fokus auf Heilkräuter gesetzt.

Von dort ist es inhaltlich nicht mehr weit bis zum lachsfarbenen Notebook Nr. 012, in dem die indische Physikerin und Aktivistin Vandana Shiva über ökologische und gesellschaftliche Folgen von Biopiraterie doziert. Eben dieser lockere Verband von Werken und Texten ist es, der zum Gelingen dieser politisch imprägnierten documenta beiträgt; die Arbeiten stehen für sich allein im Kasseler Grün, bekommen aber vor dem Hintergrund der Notizen von Shiva oder Christian Kuhtz („Einfälle statt Abfälle“) sowie ihrer eklektischen Aneinanderreihung neue Interpretationsansätze. Eine krampfhafte Unterwerfung von Kunst unter eine politische Agenda, so wie kürzlich auf der Berlin Biennale, wird so geschickt umspielt. Daher findet, wer sich lediglich die Retina streicheln lassen möchte, auf der documenta ebenso seinen Platz wie der politisch Engagierte, der den Kapitalismus am liebsten in Dongs Garten verbuddelt wüsste.

Fragt sich nur, wo die Ironie geblieben ist. Was die letzten zwei Jahrzehnte eine Konstante im Kunstzirkus gewesen ist, schüttelt auch Christov-Bakargiev nicht vollständig aus den Kleidern. Ingo Niermann liefert mit seinem Notizbuch ein Plädoyer für persönlichen Drill und schafft damit das anthropologische Modell zu Merkels Spardiktat.

Auch die vom italienischen Künstler Iacopo Seri initiierte Veranstaltung „in vino veritas, a drunken lesson“ kann nur mit einem Augenzwinkern gemeint sein: Künstler und Kritiker wie Boris Groys und Diedrich Diederichsen diskutieren am 29. Juni unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit 30 ausgewählten Personen über Kunst – dazu soll ordentlich gebechert werden. Interessierte müssen auf einem bereitgestellten Bewerbungsformular Auskünfte über ihr Verhältnis zum Trinken sowie ihre favorisierte Weinfarbe geben. Nach dem erfolgten bacchantischen Zusammenbruch stellt die d13 ein Katerfrühstück zum gemeinschaftlichen Wiederaufbau.

Moritz Scheper schreibt im Freitag über Fotografie und Kunst

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