Der obdachlose Nicht-Bettler

Armut Eine unvergessliche Begegnung mit einem obdachlosen Herrn in Rumänien

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Der obdachlose Nicht-Bettler

Foto: tonimese/Wikipedia (CC 3.0)

Kurz nach Mitternacht am Bahnhof von Cluj (Klausenburg) in Rumänien. Der Nachtzug nach Targu Mures fällt aus. Informationen über den Grund oder einen Ersatzzug gibt es nicht. Mit meinem brüchigen Rumänisch kann ich keine weiteren Informationen auftreiben, denn der Schalter für „internationale Auskünfte“ heißt nur so, weil hier Fahrscheine nach Budapest oder Wien verkauft werden, nicht wegen der Sprachkenntnisse der Mitarbeiter. Manchmal verstehe ich, warum ich in einem Jahr in Rumänien keine einzige positive Äußerung über die Staatsbahn CFR vernommen habe.

Der nächste Zug geht um 5:30, also lohnt die Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit nicht. Nachdem ich das Bahnhofsgebäude mehrfach gelangweilt abgeschritten habe, gehe ich auf den Bahnsteig hinaus. Dort ist es kalt, aber das hilft gegen die Müdigkeit.

Viel los ist hier nicht um diese Zeit. Die üblichen Gestalten, die man überall auf der Welt nach Mitternacht auf Bahnhöfen herumlungern sieht.

Nach einer Weile passiert das Absehbare. Einer der Herumstreunenden spricht mich an, fragt höflich nach einer Zigarette. Damit kann ich leider nicht dienen. Mein eingeschränktes Rumänisch fällt auch ihm auf, denn er fragt, ob mir die Fortsetzung der Konversation auf Englisch lieber wäre. Ich bejahe, und werde überrascht. Sebastian, so stellt er sich vor, spricht fehlerfrei und sehr gut Englisch.

„Wo hast Du so gut Englisch gelernt?“ frage ich und erwarte die Geschichte von einer früheren Arbeit in England oder einem Studium in den USA.

„Aus dem Fernsehen. Ich schaue gerne Action-Filme.“ Ganz begeistert ist er über die Transporter-Reihe. Ich kann es nicht ganz glauben, denn sein Englisch geht weit über diese dämlichen Filme hinaus. Wahrscheinlich schaut er heimlich Dokumentarfilme auf BBC, aber hat die intellektuellenfeindliche Stimmung in Rumänien vom Juni 1990 verinnerlicht und will es aus Angst vor marodierenden Bergarbeitern nicht zugeben.

Nachdem ich ein bisschen über mich erzählt habe, muss ich ihn höflichkeitshalber auch ausfragen. So erfahre ich, dass er tatsächlich obdachlos ist. Seit einem Unfall sind seine beiden Beine lädiert, deshalb sei es schwer für ihn, Arbeit zu finden. Er bekommt eine kleine Rente, weniger als 50 € im Monat. Er war zwei Jahre im Gefängnis. Im Supermarkt hatte er Lebensmittel im Wert von 10 € geklaut. „Aber wenn Du einige Millionen stiehlst, passiert Dir nichts.“ Das ist nicht nur die Relativierung eines Verurteilten, sondern Konsens im von Korruption durchsetzten Rumänien. Vor ein paar Stunden saß ich noch mit einer Strafverteidigerin zum Abendessen beisammen, jetzt diskutiere ich mit einem ehemaligen Strafgefangenen über Proportionalität im Strafrecht. So geht die Nacht wenigstens schnell vorbei.

„Und, wo schläfst Du?“ frage ich halb dämlich, halb fürsorglich. Mir fehlt die Gesprächserfahrung mit Obdachlosen. Er schläft im Bahnhof. Das sei eigentlich verboten, erklärt er, „aber bei mir machen sie eine Ausnahme, weil ich nie Probleme bereite. Ich trinke keinen Alkohol, ich bin nicht laut, und ich bin am Morgen wieder weg.“ Der ausgefallene Nachtzug bedeutet aber, dass die warme Wartehalle jetzt von Reisenden belegt ist und er keine Nachtruhe bekommen wird. Tagsüber zieht er durch die Stadt, durch die Parks, und wenn der Mitbewohner seines Bruders nicht zuhause ist, kann er sich in dessen Wohnung manchmal waschen.

Dass ihn das Bahnhofspersonal toleriert, glaube ich gerne, denn Sebastian sieht zwar arm und mitgenommen aus, aber durchaus nicht ungepflegt. Und er ist ausgesprochen höflich. Von Zeit zu Zeit schnorrt er von Vorbeigehenden eine Zigarette und ist dabei so unaufdringlich und leise, dass ihn manche überhören und die meisten gerne helfen.

Auch die Damen, die im Bahnhofscafé arbeiten, kennen Sebastian. Als sie zur Zigarettenpause auf den Bahnsteig treten, hören sie unserer Unterhaltung eine Weile zu und fragen ihn ungläubig: „Sprichst Du Englisch?“ Er lächelt schüchtern, „ja, klar.“ „Nein! Ihr verarscht uns doch. Ihr spielt uns etwas vor.“ Die Café- und Sandwichverkäuferinnen können es nicht glauben, dass der arme Mann, dem sie jede Nacht Obdach und hoffentlich auch ein Stück Kuchen gewähren, polyglott ist. Ihre Münder stehen so offen vor Staunen, dass der Orient-Express durchfahren könnte. Eine von ihnen wendet sich an mich: „Ist das wahr? Spricht er wirklich Englisch?“ „Oh ja, sehr gut sogar“, beseitige ich mit der Autorität des Fremden alle Zweifel. „Incredibil, incredibil“ murmeln sie fortan vor sich hin, während sie immer wieder einen verstohlenen Blick zu uns herüberwerfen. Als sich einmal die Blicke der attraktiveren der beiden Verkäuferinnen und die des Obdachlosen treffen, schüttelt sie anerkennend und noch immer ungläubig, aber lächelnd den Kopf, wie wenn sie fragen will „Was hast Du noch für Überraschungen auf Lager?“ und er kann seinen Stolz nicht mehr ganz verbergen.

Das mit den Jason-Statham-Filmen als Quelle der Englischkenntnisse wird allerdings noch zweifelhafter, als er mir bei vorbeifliegenden Vögeln erklärt, dass diese nokturnal im Gegensatz zu diurnal seien. Ich muss nachfragen, um zu erfahren, dass dies die Fachbegriffe für nachtaktiv und tagaktiv sind.

Leider fragt Sebastian mich dann, wie alt ich sei. Diese Unterhaltung läuft in solchen Situationen immer gleich deprimierend ab. „Ich bin 40.“ Er darauf: „Du siehst aber viel jünger aus. Wie 30 etwa.“ Ich sage nichts, weil ich das Thema begraben will. Er ungefragt: „Ich bin 29.“ Ich kann das Kompliment leider nicht zurückgeben, denn von Armut, Krankheit, Gefängnis, Obdachlosigkeit und eventuellen weiteren Schicksalsschlägen, die er einem Fremden nicht bei der ersten Begegnung auf die Nase binden will, gezeichnet, sieht er tatsächlich älter als 40 aus. Das sind die Momente, in denen mir bewusst wird, wie viel Glück ich im Leben gehabt habe.

„Willst Du einen Kaffee?“ fragt er plötzlich, um sogleich hinterherzuschieben: „Ich lade Dich ein.“ Gerührt und entrüstet lehne ich ab. Stattdessen biete ich an, ihm etwas zum essen zu kaufen. „Oh, das ist nicht nötig, vielen Dank. Ich habe heute schon gegessen.“

Als der Zug kommt, verabschieden wir uns herzlich, jeweils dankbar für die geleistete Gesellschaft. „Andreas“, ruft er mir nach, als ich schon auf dem Weg zum Waggon bin, „pass im Zug auf Deine Tasche auf. Hier gibt es eine Menge Diebe.“

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Geschrieben von

Andreas Moser

Nach Abschlüssen in Jura und Philosophie studiere ich jetzt Geschichte, ziehe um die Welt und schreibe darüber.

Andreas Moser

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