„Endstation Brexit“ von Ralf Grabuschnig

Bücher Das einzig Gute am Brexit ist, dass wir mehr über britische Geschichte lernen.

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Die beste Serie, die zur Zeit im Fernsehen läuft, sind die Übertragungen der Brexit-Debatten aus dem britischen Unterhaus. Nicht wegen der antiquiert anmutenden Theatralik in einem für die Zahl der Abgeordneten viel zu klein geratenen Raum, sondern wegen der rhetorischen und manchmal sogar inhaltlichen Glanzlichter.

Zuerst verglichen mehrere Abgeordnete in Westminster die Komplexität des britischen EU-Austritts mit der Schleswig-Holstein-Frage im 19. Jahrhundert. Als Süddeutscher musste ich erst einmal Wikipedia bemühen und war dann beeindruckt ob des Vergleichs.

Dann wollte die Regierung von Theresa May zum dritten Mal das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen zur Abstimmung ins Parlament einbringen, als ein Abgeordneter aufstand und darauf hinwies, „dass es gängige Praxis dieses Hauses seit 1604 ist, dass ein bereits abgelehnter Gesetzesvorschlag in der gleichen Legislaturperiode nicht erneut zur Abstimmung gebracht werden darf.“ Seit sechzehnhundertvier!

Da erblasst man als deutschsprachiger Zuschauer vor Neid. 1604 hatten wir nicht nur noch kein Parlament, sondern auch noch kein Deutschland. Und so entgeht uns die Möglichkeit, 2019 im Bundestag oder im Nationalrat Präzedenzfälle aus dem 17. Jahrhundert zu bemühen. Der Parlamentspräsident gab dem Einwand übrigens recht und setzte die Abstimmung ab. Theresa May kann nun den Frust von König James I. über das Parlament nachvollziehen.

Das hat mit dem Brexit nicht mehr viel zu tun, aber weil dieses Brexit-Chaos keinen Sinn ergibt, nimmt man ihn auch viel besser als Anlass, um sich mit der Geschichte Großbritanniens zu befassen. Das hat sich auch der Historiker Ralf Grabuschnig gedacht und mit Endstation Brexit ein Buch veröffentlicht, das die wechselvolle Geschichte Großbritanniens und Europas betrachtet und versucht, den Brexit historisch einzuordnen.

Wie bei der Geschichte eines so geschichtsträchtigen Landes nicht anders zu erwarten, gibt es gar nicht so viel Neues unter der Sonne. (Wenn in Großbritannien denn nur mal die Sonne schiene.) Grabuschnig zeichnet die großen Linien der vergangenen zwei Jahrtausende nach. Es beginnt mit der römischen Eroberung der Insel und damit dem ersten Kontakt der Briten mit einer europäischen Großmacht, die versuchte, in Oxfordshire und Sussex die gleichen Verordnungen und Richtlinien durchzusetzen wie in Rom oder Brüssel. In einer Art Referendum setzen die Briten dem um 410 ein Ende. Andererseits gab es immer wieder tiefgreifende Verbindungen zwischen dem Kontinent und den britischen Inseln, von einfachen Völkerwanderern bis zu Königshäusern.

Und auch Brexits gab es immer wieder mal, zum Beispiel als Heinrich VIII. sich 1534 von der Römisch-Katholischen Kirche unabhänig erklärte. Die anglikanische Kirche verstand und versteht sich übrigens weiterhin als katholische, nicht als protestantische Kirche, was vielleicht ein gutes Beispiel für die Schizophrenie ist, aus der EU auszutreten, aber weiterhin im Binnenmarkt sein zu wollen.

Grabuschnig ist nicht nur erkennbar anglophil (man könnte ihn fast einen Britenversteher schimpfen, wenn man nicht selbst gewisse Gefühle für dieses ulkige Land hätte), sondern auch darum bemüht, den Mythos der trockenen und langweiligen Geschichtswissenschaft zu zertrümmern. Wie schon auf seinem Blog erzählt Grabuschnig locker und flott, mehr an Geschichten und Zusammenhängen als an Daten und Ahnentafeln interessiert, die andere Werke über die britische Geschichte oft ziemlich trocken machen.

Nur bei der Bewertung der aktuellen Lage wäre ich nicht so gelassen wie der Autor („der Brexit soll sich mal nicht so aufspielen“). Zwar haben sich England bzw. Großbritannien und Europa immer wieder aufeinander zu und voneinander weg bewegt, doch waren wir noch nie so eng wirtschaftlich und juristisch verflochten wie jetzt in der EU. Und das aktuelle Chaos auf britischer Seite wird nicht dadurch weniger furchterregend, dass England sich nach dem Hundertjährigen Krieg schon einmal vom europäischen Kontinent zurückgezogen hat.

Ich wünsche, Ralf Grabuschnig behält Recht, wenn er hofft, dass diese neue englische Abkehr von Europa nicht von Dauer sein wird. Aber bis dahin wird viel zerstört werden, im Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union (schon der erste Beitrittsversuch in den 1960er Jahren klappte nicht), im Verhältnis der Landesteile untereinander und, von den meisten Briten hochmütig postkolonial übersehen, im Verhältnis zu Irland.

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Geschrieben von

Andreas Moser

Nach Abschlüssen in Jura und Philosophie studiere ich jetzt Geschichte, ziehe um die Welt und schreibe darüber.

Andreas Moser

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