“Fritz Kolbe” von Lucas Delattre

Geschichte Der wichtigste Spion des Zweiten Weltkriegs.

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“Fritz Kolbe: Der wichtigste Spion des Zweiten Weltkriegs” wäre einer der besten Spionageromane, die ich je gelesen habe, wenn es denn ein Roman wäre. Die Geschichte ist jedoch authentisch. Aber auch eine wahre Geschichte braucht einen guten Autoren, der sie in ein fesselndes Buch packen kann. Der französische Journalist Lucas Delattre war offensichtlich der richtige Mann für diese Aufgabe.

https://mosereien.files.wordpress.com/2015/07/kolbe-deutsch.jpg?w=640Fritz Kolbe war während des Zweiten Weltkriegs ein auf der Mitte der Karriereleiter stehender Beamter im Auswärtigen Amt in Berlin. Anders als viele bekanntere “Widerstandskämpfer”, die sich erst gegen die Nazis wendeten als sie ahnten dass Deutschland den Krieg verlieren würde, konnte der aus einer sozialdemokratischen Familie stammende und in der Wandervogel-Bewegung sozialisierte Fritz Kolbe noch nie etwas mit den Nazis, der Diktatur, dem Militarismus, Nationalismus und Antisemitismus anfangen. Als einer der wenigen Beamten weigerte er sich, in die NSDAP einzutreten, auch nachdem er mehrfach dazu aufgefordert wurde und ihm erklärt wurde, dass seine diesbezügliche Weigerung seine Karriere beeinträchtigen würde (er wurde nie mehr an ein Konsulat oder eine Botschaft versetzt). Und schon wieder ein Beispiel, das zeigt, dass es absolut möglich war, auch während des Dritten Reichs etwas Widerstand an den Tag zu legen, und das diejenigen beschämen sollte, die nach 1945 immer wieder die faule Ausrede “Was hätten wir den tun sollen?” bemühten.

Da seine Karriere praktisch blockiert war, war Fritz Kolbe auf eine Abteilung im Auswärtigen Amt beschränkt, die Meldungen von den deutschen Botschaften aus aller Welt erhielt, die ausländische Presse auswertete, Berichte zusammenstellte und sie an verschiedene Ministerien weiterleitete. Es war keine aufregende Arbeit, aber nur wenige Stellen boten dieses Maß und dieses Niveau an Einblick in Geheimsachen. Kolbe entschied sich, die als geheim eingestuften Dokumente zu behalten oder Kopien davon anzufertigen, für den Fall, dass er sie mal den Alliierten in die Hände spielen könnte.

Diese Möglichkeit ergab sich, als er den Auftrag erhielt, Dokumente zur deutschen Botschaft in Bern in der Schweiz zu überbringen. Vor seiner Rückfahrt hatte er ein paar freie Tage und besuchte die britische Botschaft, wo er brüsk abgewiesen wurde. Als nächstes versuchte er es bei der amerikanischen Botschaft. Zum Glück war dort ein Geheimagent namens Allen Dulles stationiert, der später Direktor des CIA werden sollte, der seinem Instinkt und diesem deutschen Spion vertraute, obwohl Dulles und sein Kollege es nicht fassen konnten, dass Kolbe um keinen Pfennig Honorar bat.

Wie in einem Spionagethriller beschreibt das Buch im Detail, wie Kolbe die Akten über die Grenze schmuggelte, wie er sich im Schutz der Dunkelheit mit den amerikanischen Agenten traf und wie sie ihn nächtelang verhörten. Delattre bietet einen sehr interessanten Einblick in das Überprüfen und Verifizieren der so gewonnenen Informationen und in die Denkweise von Geheimdiensten und ihren Agenten.

Kolbe kehrte einige Male nach Bern zurück, jedes Mal mit Hunderten von Dokumenten und wertvollen Notizen. Er überbrachte Schreiben der Botschafter, Einschätzungen der militärischen und politischen Stärke der deutschen Verbündeten und er schlug Ziele für ameikanische und britische Bomber vor: Waffenfabriken, Raketenabschussrampen, Schwerindustrie, Eisenbahnknotenpunkte. Er fertigte sogar eine detaillierte Landkarte von Hitlers Hauptquartier in der Wolfsschanze in Polen an, wo er einige male Unterlagen überbracht hatte, und flehte die Amerikaner geradezu an, es zu bombardieren. Tragischerweise blieben viele der Informationen auf dem Weg zwischen den amerikanischen und britischen Geheimdiensten und in den verschiedenen konkurrierenden Abteilungen stecken. Die Analysten in Washington und London, die Kolbe nie persönlich getroffen hatten, konnten nicht glauben, dass jemand ohne Bezahlung so viele Informationen überbringt, und betrachteten alles, was Kolbe lieferte, mit größtem Misstrauen. So ging wertvolle Zeit verloren; womöglich verlängerte dies sogar den Krieg.

Eine interessante Tatsache, die mir neu war, ist dass die Widerstandsgruppe um General Beck und Carl Goerdeler die Amerikaner kontaktiert und um militärische Unterstützung für den Staatsstreich am 20. Juli 1944 gebeten hatte (konkret wurden mehrere amerikanische Luftlandedivisionen angefragt, die über Berlin abspringen sollten). Dieser Offizierskreis schlug auch vor, dass die Wehrmacht unter der Bedingung kapitulieren würde, dass sie im Osten weiterhin gegen die Rote Armee kämpfen dürfe. Gemäß der zwischen den Alliierten getroffenen Vereinbarung bestanden die USA jedoch auf einer bedingungslosen Kapitulation.

https://andreasmoser.files.wordpress.com/2015/07/fritzkolbe.jpg?w=640Fritz Kolbe drang darauf, selbst aktiv zu werden. Er war mit anderen Oppositionellen in Kontakt und gründete eine “Volksmiliz” mit zwischen 30 und 100 Leuten, ausgerüstet mit Fahrrädern, die zur Übernahme Berlins bereit standen für den Fall, dass die Amerikaner landeten. Die amerikanischen Spione hielten dies wahrscheinlich für reichlich naiv und bedrängten Kolbe, von solchen Aktivitäten die Finger zu lassen. Sie verwiesen darauf, dass er als Spion viel nützlicher sei, verschwiegen aber während der gesamten Zusammenarbeit eine entscheidende Tatsache: Fritz Kolbe war nicht nur der wichtigste, sondern er war der einzige Spion, den der US-Geheimdienst am deutschen Regierungssitz hatte.

Kolbe überlebte den Krieg unentdeckt – trotz seiner relativ offenen Kontakte zu Gegnern der Nazis und obwohl er einigen seiner Kollegen von seinen Kontakten zu den Amerikanern erzählt hatte. Aber das Buch ist 1945 noch nicht ganz zu Ende. Traurigerweise ist die Geschichte von Kolbe in den Gründungsjahren der Bundesrepublik nur allzu symptomatisch für jene Zeit. Von seinen ehemaligen Kollegen im Auswärtigen Amt als Verräter gebrandmarkt wird er nie wieder eingestellt, während sich die Ränge des Diplomatenkorps mit ehemaligen Nazis füllen. Es ist wie wenn er auf eine schwarze Liste gesetzt worden wäre. Seine Geschichte, seine Taten, sein Mut und seine Motive werden einem größeren Publikum erst lange nach seinem Tod im Jahr 1971 bekannt.

Delattres Buch ist ausgezeichnet erzählt und bietet zudem eine Reihe von interessanten historischen Anmerkungen, Quellenangaben und ein thematisch gegliedertes Literaturverzeichnis, die die Lust wecken, diese Episode des Zweiten Weltkriegs näher zu erforschen. – Wenn Euch dieses Buch behagt, empfehle ich “Jeder stirbt für sich allein” von Hans Fallada und “Beautiful Souls” von Eyal Press (letzteres noch nicht auf Deutsch erhältlich).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Moser

Nach Abschlüssen in Jura und Philosophie studiere ich jetzt Geschichte, ziehe um die Welt und schreibe darüber.

Andreas Moser

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