Was passiert? Nichts

Rechtsterrorismus Auch wenn das NSU-Buch von Stefan Aust und Dirk Laabs nicht mehr als ein Anfang sein will, so ist es doch einer mit Schrecken

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Die versiegelte Wohnung von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe
Die versiegelte Wohnung von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe

Bild: Marco Prosch/Getty Images

Das Buch "Heimatschutz: Der Staat und die Mordserie" von Stefan Aust und Dirk Laabs ist mehr als ein Buch über den NSU. Es ist ein Buch über die politische Kultur in Deutschland, die Gewaltbereitschaft und die staatlichen Verbindungen zu Rechtsextremen. Wenn man so etwas über ein anderes Land lesen würde, gäbe es eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes.

Kein Verlag würde dieses Buch als Manuskript für einen Thriller annehmen. Die Geschichte ist einfach zu unglaublich. Selbst als Sachbuch ist es zum Teil schwer zu glauben. Immer wieder habe ich Aussagen anhand anderer Quellen überprüft, weil ich fassungslos war. Zum Glück gab es etliche Untersuchungsausschüsse, die insbesondere die staatliche Rolle bei den Morden der Rechtsterroristen untersuchten.

Gerade in Westdeutschland machen wir es uns manchmal zu einfach, den Rechtsextremismus mit der Wiedervereinigung 1990 und den Wendeverlierern im Osten zu erklären. Die erste Leistung von Stefan Aust und Dirk Laabs besteht darin, den NSU nicht im luftleeren Raum, sondern auf lange fruchtbarem braunem Boden entstehen zu lassen. Auch vor 1990 gab es Rechtsextreme, schon vor 1990 mordeten sie, und zwar beiderseits der deutsch-deutschen Grenze. Wenn man liest, was sich schon seit den 1970ern (S. 83) an Rechtsterroristen in Deutschland tummelte, fragt man sich, wieso man in der Zeit immer nur RAF-Fahndungsplakate sah. Das Staatsversagen gegen Rechtsextreme hat Tradition.

Es wird ein Deutschland geschildert, das einen an den Roman Das Spinnennetz von Joseph Roth aus der Weimarer Republik erinnert: Politische Gewalt und Kriminalität gehen Hand in Hand. Bürger in Deutschland sammeln in ihrem Dorf offen Geld für einen Skinhead, um ein Asylbewerberheim abzubrennen. (S. 316). Allein zwischen August und Dezember 1980 bringen deutsche Neonazis 18 Menschen um (S. 87). Zwei Anschläge, auf dem Oktoberfest und an der Schweizer Grenze, waren Selbstmordattentate, die beileibe keine Erfindung von Al-Qaida sind. Schon 1997 verwendeten Rechtsradikale den Begriff "als Märtyrer sterben" (S. 218), lange vor den Dschihadisten. Der Spiegel betitelte ebenfalls 1997 einen Artikel über Neonazis mit "Lebende Zeitbomben". Wer ihn heute liest, erkennt darin die Vorhersage des Entstehens des NSU, und zwar, wie tatsächlich eingetroffen, in Thüringen. Verbindungen in den Nahen Osten gab es allerdings auch: Einige Neonazis ließen sich bei der palästinensischen Fatah im Libanon ausbilden.

Der erste NSU-Mord findet erst auf Seite 450 statt. Bis dahin schildern die Autoren den sogenannten Thüringer Heimatschutz, aus dem der NSU hervorging. Sie schildern den kriminellen und rechtsextremen Weg von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die schon als Jugendliche Einbrüche, Raub, Erpressung, Diebstahl und Körperverletzung begehen und Bomben bauen. Immer wieder treten Verbindungen zu anderen Neonazis zutage. Das Buch macht klar, dass der NSU nicht aus dem Nichts enstand, dass er gut vernetzt war und dass er behördliche Unterstützung genoß. Schon in vorherigen Fällen verdächtigte das Bundeskriminalamt den Verfassungsschutz, seine Kontakte in der Szene über Ermittlungen zu informieren (S. 137). Wenn eine Behörde eine andere Behörde der Strafvereitelung bezichtigt, sollte das ein Weckruf sein. Passiert ist nichts.

Dabei weiß der Verfassungsschutz durchaus, was vor sich geht. 1996 observierte der Bundesverfassungsschutz Thomas Lemke, einen Neonazi, der in dieser Zeit drei Menschen tötete (S. 154). Selbst der NSU ist nicht unbekannt, er fiel schon durch den Bau von Bomben und durch rechtsextreme Straftaten auf. Im August 1999 – vor dem ersten Mordfall – benutzte der Verfassungsschutz intern bereits den Begriff "Rechtsterroristen" (S. 398). Die Konsequenz des Verfassungsschutzes? Mehr Geld für die Nazis. Der Verfassungsschutz wollte immer mehr V-Leute und finanzierte damit die Neonazis. Ganze Auflagen von rechtsradikalen Musik-CDs wurden mit Geldern des Verfassungsschutzes finanziert. Der Neonazi-Szene war das nicht unbekannt. Sie wußten, dass einige von ihnen mit dem Staat kooperieren müssen. Dafür bekamen sie immer wieder Warnungen vor Hausdurchsuchungen, wobei die Frage offen bleibt, woher der Verfassungsschutz von den von der Polizei geplanten Durchsuchungen erfuhr. Ich stelle mir auch die Frage, was das Ziel des Verfassungsschutzes war. Was nützen all die Informationen, wenn man nie handeln will? Das ist eine fast schon psychopathische Sammelwut.

Die Polizei hatte ihre eigenen Probleme. Einige Polizisten, darunter Kollegen der später vom NSU ermordeten Michèle Kiesewetter, waren beim Ku-Klux-Klan (angeworben von einem KKK-Mitglied beim baden-württembergischen Verfassungsschutz). Die Garage, in der der NSU Bomben baute, gehörte einem Kripo-Beamten (S. 257). Uwe Böhnhardt war bei der Durchsuchung zuerst anwesend, fuhr aber im Beisein der Polizei seelenruhig weg (S. 267). Der Fahndungsaufruf wurde gelöscht. Zwei weitere Tage später, als Böhnhardt schon 60 Stunden Vorsprung hatte, erging dann doch ein Haftbefehl. Er wurde die nächsten 13 Jahre nicht gefaßt, obwohl die V-Leute des Verfassungsschutzes wussten, wer mit dem NSU-Trio Kontakt hatte, und obwohl der Kreis ihrer Unterstützer vom Untersuchungsausschuss des Bundestages auf mindestens 100 Personen – viele von ihnen vom Verfassungsschutz überwacht oder bezahlt – geschätzt wurde. Treffend nennen Aust und Laabs das Kapitel über die Flucht "Unter staatlicher Aufsicht".

Die Flüchtigen kommen bei bekannten, vorbestraften Neonazis unter. Die Polizei findet Adresslisten, darauf die Namen von V-Leuten, inklusive Telefonnummern, die nicht einmal der Polizei bekannt waren (S. 287). Ein BKA-Beamter regt die Überprüfung an. Nichts geschieht. Von Tino Brandt erfährt der Verfassungsschutz, dass sich das NSU-Trio nach einem Wohnmobil umsieht. Bekanntlich ein zutreffender Hinweis. Nichts geschieht. Doch, etwas geschieht: Der Verfassungsschutz warnt die Eltern von Mundlos, mit ihrem Sohn nicht am Telefon zu sprechen, weil dies von der Polizei abgehört würde. Auch mit Familie Böhnhardt trifft sich der Verfassungsschutz regelmäßig (S. 483). Man hat den Eindruck, dass der Verfassungsschutz so gierig nach immer mehr Quellen ist, dass er selbst flüchtige Straftäter noch als V-Leute anwerben möchte.

Im Monat nach der Flucht läßt die Staatsanwaltschaft 50 Aktenordner aus dem Verfahren über den "Thüringer Heimatschutz", aus dem die NSU-Terroristen hervorgegangen waren, schreddern, obwohl es bald zum Prozess kommen könnte. Die Staatsanwaltschaft begeht den Fehler, immer wieder Einzeltäter zu verfolgen, anstatt die Verfahren zu bündeln, um so die Strukturen und Verflechtungen offenzulegen.

Auch andere Behörden wußten Bescheid. Jürgen Helbig gesteht gegenüber dem Militärischen Abschirmdienst, dass er als Kurier für den NSU agiert hat, dass er es wieder machen würde und dass er sich an einer gewaltsamen Revolution gegen den Staat beteiligen würde (S. 401). Er gesteht also den Straftatbestand der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Was passiert? Nichts. Der MAD behält die Informationen für sich, informiert das Landeskriminalamt trotz dessen Anfrage nicht. Helbig bleibt bis zum Ende seines Wehrdienstes bei der Bundeswehr. Die Affinität der Rechtsextremen zur Bundeswehr ist nichts Neues. Ein MAD-Offizier war selbst rechtsextrem. Ein KSK-Soldat plante Anschläge auf deutsche Politiker (S. 446).

Als der NSU im September 2000 in Nürnberg den ersten bekannten Mord begeht, fällt der Verdacht grundlos auf die Familie des Opfers. Ein Fehler, der sich durch die ganze Mordserie ziehen wird. Auch die Medien haben sich in den folgenden Jahren durch die Begriffswahl "Döner-Morde" blamiert. Nur der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein hielt schon früh einen ausländerfeindlichen Hintergrund für möglich. Die Polizei, ihrerseits nicht immun gegen institutionellen Rassismus (S. 612 und 694), betreibt im Rahmen der Ermittlungen sogar zwei Dönerstände in der Hoffnung, von imaginierten – aber natürlich ausländischen –Kriminellen bedroht zu werden. Die einzige Bedrohung ist eine ausländerfeindliche, zynischerweise mit Verweis auf die Česká -Mordserie (alle Morde der NSU wurden mit der gleichen Pistole der Marke Česká begangen). Währenddessen feiern Neonazi-Bands die "Dönerkiller" (S. 759), ein weiterer Beleg dafür, dass die Taten des NSU in der Szene durchaus bekannt waren. Eine Fallanalyse der bayerischen Polizei aus dem Jahr 2006 ging endlich von rechtsextremen Tätern aus. Das BKA hielt dies für abwegig und forderte ein Gegengutachten an.

Im Verhältnis zwischen Verfassungsschutzämtern und Polizei ist unbestritten, dass die Aufklärung der Morde Aufgabe der Polizei gewesen wäre und dass sich diese nicht immer ruhmreich angestellt hat. So weist ein LKA-Präsident einen Polizisten an, "ein bisschen zu ermitteln aber nichts zu finden", nachdem der flüchtige Böhnhardt gesichtet wurde. Aber es war eindeutig der Verfassungsschutz, der das größere Wissen und den direkten Zugriff auf das Netzwerk der NSU-Unterstützer hatte (S. 416), dieses Wissen nicht mit der Polizei teilte und im Gegenteil die Neonazis weiter beschützte. Dass der Verfassungsschutz deshalb die größte Kritik abbekommt, ist absolut gerechtfertigt. Er war nicht nur nicht kooperativ, sondern behinderte die Ermittlungen aktiv. Der Verfassungschutz verbrachte V-Leute ins Ausland, bezahlte Anwälte für Neonazis, vernichtete 310 Aktenordner, darunter Abhörprotokolle von Beschuldigten im NSU-Verfahren. Um Spuren zu verwischen, wurde die Vernichtung sogar zurückdatiert.

Symptomatisch für die verdächtigen Verwicklungen des Verfassungsschutzes ist Andreas Temme. Der Beamte des hessischen Verfassungsschutzes war am 6. April 2006 in Kassel im Internetcafé von Halit Yozgat – und zwar genau zu dem Zeitpunkt als Yozgat von Mundlos und Böhnhardt erschossen wurde. Temme hatte Büro und Wohnung in Kassel, also eigentlich keine Notwendigkeit, ein Internetcafé aufzusuchen. Temme war nur 11 Minuten in dem Internetcafé, genau in dieser Zeit geschieht der Mord. Sekunden nach dem Mord verläßt Temme den Laden. Temme behauptet, nichts davon mitbekommen zu haben, dass der Inhaber erschossen wurde. Merkt man nichts, wenn man für die Internetnutzung zahlen will und der Inhaber des Cafés in einer Blutlache liegt? Und wieso störte es die NSU-Mörder nicht, dass ein Zeuge im Internetcafé saß? Kurz vor und nach dem Mord telefonierte Temme mit dem Neonazi Benjamin Gärtner.

Er telefonierte auch mit einem Vorgesetzten beim hessischen Verfassungsschutz. Aus diesem abgehörten Gespräch (das in der ursprünglichen Niederschrift der Polizei um die brisanten Aussagen gekürzt wurde) geht hervor, dass Temme vorab von dem Mord wusste. Zitat des Geheimdienstbeauftragten Gerald-Hasso Hess zu Temme: "Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, dann bitte nicht vorbeifahren." Das Problem war also nicht der geplante Mord, nicht die Verstrickung des Verfassungsschutzes, nicht die Vertuschung, sondern das Problem war, dass sich ein Beamter den Mord selbst live ansehen wollte. Die Aussage von Hess läßt darauf schließen, dass dies keine einmalige Angelegenheit war.

Die Hausdurchsuchung bei Temme förderte vier Waffen, Drogen, Bücher über Serienmorde und originäre NS-Literatur zutage. Letztere wird während der Ermittlungen ohne Anfertigung von Kopien vernichtet. Als die Polizei die von Temme geführten V-Leute in der Neonazi-Szene befragen will, lehnt der hessische Verfassungsschutz dies ab. Es handle sich "nur um ein Tötungsdelikt" (S. 655), das rechtfertige nicht die Aufhebung der Geheimhaltung. Der Generalstaatsanwalt und der damalige Innenminister Volker Bouffier decken den Verfassungsschutz.

Wer mehr über nur diesen einen Morfall aus der Serie erfahren – und dabei den Glauben an den Rechtsstaat verlieren – will, kann diesen Artikel lesen. Andreas Temme ist noch immer Beamter im Dienste des Landes Hessen. Noch etwas Unglaubliches: Im rechtsmedizinischen Institut entwendete ein Assistent das Mobiltelefon des toten Yozgat und tauschte die SIM-Karte aus. Wieso? Und warum zum Teufel nimmt die Polizei das Mobiltelefon eines Mordopfers nicht an sich, um es zu überprüfen, sondern schickt es ins Leichenschauhaus?

Selbst die Untersuchung des Mordes an der Polizistin Kiesewetter wurde schlampig geführt (S. 703), wobei ein verunreinigtes Wattestäbchen (S. 724) zur nachlässigen Verfolgung anderer Spuren führt, obwohl ihr Onkel Mike Wenzel – ebenfalls Polizist – schon früh einen Zusammenhang zu den "Türkenmorden" vermutete. Die Verbindungen zwischen Kiesewetter und dem NSU (Opfer und Täter aus Thüringen, Kollegen beim Ku-Klux-Klan, Wenzel bearbeitete als Polizist den Thüringer Heimatschutz, Freundin des Opfers ist Polizistin in Thüringen und unterstützt den NSU, u.s.w.) lassen einen daran zweifeln, dass das Opfer zufällig ausgewählt wurde.

Die Aufklärungsquote bei Morden beträgt in Deutschland um die 95%. Nach der Lektüre dieses Buches liegt der Verdacht nahe, dass an den verbleibenden 5% allesamt Verfassungsschützer beteiligt sind. Auch dem NSU wurde schließlich nicht einer seiner Morde, sondern ein Banküberfall (bei der bevorzugten Geldbeschaffungsmethode waren sich RAF und NSU einig) im November 2011 zum Verhängnis.

Nach 882 spannenden aber beunruhigenden Seiten schreiben Aust und Laabs: "Dieses Buch soll ein Anfang sein." Mehr kann es nicht sein, denn noch immer werden weitere erschütternde Details über den NSU und die Verstrickung staatlicher Behörden bekannt.

Auch wenn ein Buch mit Redaktionsschluss April 2014 aufgrund neuer, zusätzlicher Erkenntnisse mittlerweile eine Neuauflage verdient hätte, lohnt trotz einiger Flüchtigkeitsfehler doch die Lektüre. Man bekommt hier einen Einblick in die gefährliche Parallelgesellschaft der Rechtsextremen, man lernt, wie weit verzweigt und auch international vernetzt die Neonazis sind, wie sie sich finanzieren und – am deprimierendsten – wie oft staatliche Behörden ihre schützende Hand über das alles halten. Geht der Verfassungsschutz mit Islamisten eigentlich genauso um?

Für diejenigen, die keine Zeit zum Lesen haben, gibt es einen Dokumentarfilm der gleichen Autoren. Natürlich mit weit weniger Details als in dem Buch, dafür aber bekommt man einen direkteren Eindruck der schrecklichen Gestalten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Moser

Nach Abschlüssen in Jura und Philosophie studiere ich jetzt Geschichte, ziehe um die Welt und schreibe darüber.

Andreas Moser

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