"Schwarze Erde" von Jens Mühling

Ukraine Ein spannendes und aktuelles Buch über die Suche eines Landes nach seiner Identität.

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Der Bericht einer Reise durch die Ukraine aus dem Jahr 2016 dreht sich natürlich auch um die Annexion der Krim und den Krieg im Donbass – beides Regionen, die Mühling für sein Buch Schwarze Erde selbst bereist. Aber er beschränkt sich nicht auf die Konfliktherde, sondern reist sowohl in die Großstädte wie Kiew, Lwiw und Odessa als auch in kleine und kleinste Orte an der polnischen Grenze, in den Karpaten und in der Steppe.

Überall sucht und findet er das Gespräch, oft mit älteren Menschen, die viel erlebt und beobachtet und Zeit zum Erzählen haben. Es mag an der Situation in der Ukraine oder an den Vorlieben des Autors liegen, aber meist kommen diese Gespräche sehr schnell auf Politik, Geschichte, Sprache, Religion und Identität. Ich persönlich fand das hochinteressant, aber die an diesen Themen nicht interessierten Leser seien gewarnt.

Sprachlich hingegen ist das Buch so gut geschrieben, dass man es selbst nicht an der Ukraine interessierten Lesern empfehlen möchte. Man muss gar nichts über Lwiw wissen, um Sätze wie solche zu schätzen:

Lwiw sah aus wie das uneheliche Kind, das Salzburg nach einer Liebesnacht mit Krakau zur Welt bringen würde.

Oder diese Landschaftsbeschreibung zu Kriegszeiten:

Das Laub der Pappeln und Birken am Straßenrand sah matt und kraftlos aus, als sei es in der regenlosen Spätsommerhitze verdorrt. Seine Farbe war mehr kränklich als herbstlich – alle Rottöne fehlten, ich sah nur trockenes Gelb, glanzloses Beige, ausgezehrtes Grün. Es war, als passten sich die Bäume den Tarnanzügen der ukrainischen Armee an, nicht umgekehrt.

Spannend bleibt der Bericht über die Reise auch deshalb bis zum Schluss, weil Mühling – durch geschickte Auswahl oder durch Zufall – immer wieder Menschen trifft, deren Weltbilder sich komplett widersprechen. Er scheut nicht vor Diskussionen zurück. Was soll man auch anders machen, wenn einem Menschen mit obskuren Verschwörungstheorien begegnen?

Ob ich, fragte Viktor, davon gehört habe, dass die faschistische Junta in Kiew dazu aufgerufen habe, die russischen Krimbewohner gesammelt an die Wand zu stellen? Was ich davon halte, dass die Europäische Union alle russischen Christen zu Homosexuellen umerziehen wolle? Ob ich wisse, dass sich unter den Krimtataren mehr als fünftausend gewaltbereite Islamisten versteckten, ausgebildet in arabischen Terrorcamps und begierig, die slawische Bevölkerung zu massakrieren?

Immer wieder trifft er auf Menschen, die sich so sehr in einem anti-russischen, anti-ukrainischen, anti-europäischen oder antisemitischen Weltbild verrannt haben, dass es aussichtslos erscheint, dass sie das selbstgeschaffene Labyrinth je wieder verlassen können. Daran könnte selbst die vollständige Umsetzung der Minsker Abkommen nichts ändern.

Mühling trifft aber auch ukrainisch-russische Familien, Menschen, die ein Gemisch aus Russisch und Ukrainisch sprechen, andere, die nicht genau wissen, ob sie Ukrainer oder Russen sind, und Russen, die gerne die Ukraine unterstützen würden, weil sie das Land für den freieren Staat halten, sich aber beklagen, dass ihnen das von Kiew nicht gerade leicht gemacht wird.

Geschichte, Konflikte und Identitätssuche der Ukraine werden in Schwarze Erde lebendig. Ich jedenfalls war gerne mit Jens Mühling in der Ukraine unterwegs, so dass ich mir als nächstes sein russisches Abenteuer gönnen werde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Moser

Nach Abschlüssen in Jura und Philosophie studiere ich jetzt Geschichte, ziehe um die Welt und schreibe darüber.

Andreas Moser

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