Taarof, der Grund, warum niemand den Iran versteht

Iran Ein paar Lektionen für die anstehenden Atomverhandlungen.

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Die Taxifahrt durch Teheran dauerte nur kurz. Aber lange genug für drei Überraschungen.

Erstens: Es war eine Fahrerin, die für mich anhielt. Ich war gerade erst im Iran angekommen, den Kopf voller Klischeebilder von Geschlechtertrennung und knallhart durchgesetzten Regeln. So war es nicht, zumindest nicht in den Großstädten, in denen ich unterwegs war. Klar, der Iran ist nicht Schweden, aber er ist eben auch nicht Saudi-Arabien.

Zweitens: Die Fahrerin nahm immer neue Passagiere auf. Auf der Rückbank mussten sich Fremde schon auf die Schöße von anderen Kunden setzen, wobei sich Männer und Frauen vergnügt mischten. Und all das in einer der Hauptverkehrsstraßen in der Hauptstadt, am hellichten Tag.

Drittens: Als wir an der Kreuzung ankamen, wo ich raus musste, fragte ich, wieviel es koste. Die Taxifahrerin sagte einfach: „Das ist schon in Ordnung! Es war mir eine Ehre, Sie fahren zu dürfen.“

Ich dankte ihr aus tiefstem Herzen, nicht so sehr wegen der ersparten Ausgaben, sondern weil sie mir die Mühe erspart hatte, aus einem riesigen Bündel Scheine die richtigen Banknoten rauszukramen, eine Aufgabe, die mich bis zu meinem letzten Tag im Iran zur Verzweiflung treiben würde.

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Später am Abend traf ich meine iranischen Freunde. Ich sage „Freunde“, aber vor meiner Reise in den Iran hatte ich sie noch nicht gekannt. Sie saßen im Flugzeug neben mir und fragten mich über meine Reisepläne aus. Als sich herausstellte, dass ich keine Pläne hatte, die diesen Namen verdienten (wegen der internationalen Sanktionen kann man in den Iran keine Bank- oder Paypal-Überweisungen vornehmen, also hatte ich keine Hotels gebucht), luden sie mich ein, in ihrem Haus zu wohnen. Sie waren sympathisch, und ich habe eine gute Menschenkenntnis, also sagte ich ja.

Aber zurück zu jenem Abend. Ich erzählte ihnen, durchaus stolz: „Ihr werdet nicht glauben, was mir heute passiert ist! Ich war im Taxi unterwegs, und die Fahrerin war so nett, sie wollte gar kein Geld von mir!“

Meine Freunde brachen in lautes Lachen aus, allerdings nur kurz und entschuldigten sich sogleich, als sie meinen perplexen Blick bemerkten.

“Die Fahrerin hat nur Taarof gemacht“, sagten sie, um mich sodann mit dem verwirrendsten Konzept des menschlichen Zusammenlebens vertraut zu machen. Ernsthaft, dieses Taarof ist noch unverständlicher als romantische Beziehungen.

“Sie war nur höflich”, erklärten sie.

“Ja, ich fand sie auch sehr höflich“, stimmte ich zu.

“Aber, ähm,“ meine Freunde rangen um Worte, wie vor der Enthüllung eines Staatsgeheimnisses, „sie hat es nicht so gemeint.“

“Woher wollt Ihr das wissen? Ihr wart doch nicht dabei.” Ich war etwas verletzt.

“Weil Taarof so funktioniert. Es ist eine ritualisierte Form persischer Höflichkeit. Du hättest von dir aus anbieten sollen, die Fahrt zu bezahlen.“

“Aber das hatte ich doch”, sagte ich stolz, und fühlte mich in dem Glauben bestärkt, der ultimative Kenner aller kulturellen Gepflogenheiten dieser Welt zu sein.

“Du musst darauf bestehen.”

“Aber ich wusste nicht, wie viel es kostet. Deswegen hatte ich sie doch gefragt.”

“Du musst mehrmals fragen.” Es war deutlich zu merken, dass ihnen die Taxifahrerin wegen des finanzielles Ausfalls leid tat.

Auch ich begann, mich irgendwie schuldig zu fühlen. “Aber was, wenn sie wiederholt hätte, dass ich nichts bezahlen müsse?”

“Du musst mindestens dreimal die Bezahlung anbieten. Und dann bekommst du langsam ein Gefühl dafür, ob es Taarof oder Taarof nakon [was anscheinend kein Taarof bedeutet] ist. Aber im Taxi oder im Restaurant ist es eigentlich immer Taarof. Ich meine, warum sollte dir jemand etwas umsonst geben?“

Das war ein Argument. Aber verstanden hatte ich immer noch nichts.

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Am nächsten Tag wollten mir meine Freunde dieses Taarof demonstrieren, also nahmen wir zusammen ein Taxi. Der Fahrer war ein älterer Herr, der so aussah, wie wenn er zwischen den Fahrten Bücher las. Weil die Unterhaltung auf Persisch ablief, war sie dieses Mal etwas komplexer, und meine Freunde übersetzen anschließend für mich.

Freunde: “Danke, wir steigen hier aus. Wieviel macht das?”

Fahrer: “Oh nein, das ist schon in Ordnung. Ich musste sowieso in diese Richtung. Es hat keine Umstände bereitet, Euch mitzunehmen.“

“Aber Sie haben uns enorm geholfen, wir hätten niemals so weit laufen können.“

“Ach, kein Problem. Mit dem Auto waren es doch nur ein paar Minuten.“

“Aber wenn wir nicht in Ihrem Auto gewesen wären, hätten Sie andere Fahrgäste aufnehmen können, die vielleicht weiter gefahren wären.“

“Ich schwöre bei Gott, ich würde mir gar keine anderen Fahrgäste wünschen. Die Begegnung mit Euch war ein Segen für meinen Tag.”

“Aber vielleicht möchten Sie etwas für Ihre süßen Kinder kaufen?”

“Sie haben doch sicher auch Kinder?”

“Nein.”

In dem Moment fiel dem Fahrer für eine Sekunde lang keine Antwort ein, und einer meiner Freunde nutzte die Unterbrechung, um ihm eine 100.000-Rial-Banknote zu überreichen. Das sind etwa zwei Euro.

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Auch ich unterbreche kurz, um Euch den wichtigsten Tipp mit auf die Reise in den Iran zu geben: Bezeichnet die Menschen dort nicht als Araber.

Warum?

Weil sie keine sind! Es sind Perser. Sie sprechen Persisch, nicht Arabisch. Die Kultur ist persisch, nicht arabisch. Wenn Euch der Unterschied nicht bewusst ist, denkt einfach an das (wahre) Klischee des Feilschens auf einem arabischen Basar. Im Iran passiert genau das Gegenteil. Taarof ist Feilschen im Rückwärtsgang, wie Ihr sehen werdet, wenn wir wieder zu unserem Taxi schalten.

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Der Fahrer steckte die Banknote in seine Brieftasche, nahm ein paar andere Scheine heraus und händigte sie meinem Bekannten auf dem Beifahrersitz aus. Ich dachte, es wäre das Wechselgeld.

Ohne dass dieser jedoch auf das Bündel an Scheinen blickte, zog er einen oder zwei heraus und gab den Rest an den Fahrer zurück.

Der Fahrer nahm sich einen Schein und reichte das immer noch umfangreiche Bündel zurück an den Kunden.

Dieses Hin-und-Her spielte sich noch ein paar Mal ab, wobei der Fahrer immer wieder versicherte, dass wir die freundlichsten Menschen wären, die er je getroffen habe, und meine Freunde darauf bestanden, dass er Süßigkeiten für seine Kinder kaufen solle, die sicher die herzallerliebsten Kinder wären, die je auf dieser Welt gelebt haben.

“Ich werde meinen Kindern von den wunderbaren Menschen berichten, denen ich heute begegnet bin“, sagte der Fahrer schließlich, mit Tränen in den Augen, und akzeptierte den Gegenwert eines Euros.

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Ich nahm nie mehr ein Taxi in Teheran.

Meine Freunde erklärten mir immer wieder die Spielregeln, aber ich versagte weiterhin. Ich aß Früchte, die mir die Händler auf der Straße schenkten, ich surfte kostenlos in Internetcafés, ich nahm Einladungen zu Tee und Kuchen an, und jedes Mal hätte ich die Offerten höflich zurückweisen sollen. Zumindest ein paar Mal.

Taarof gilt in allen Bereichen der Gesellschaft, sogar unter Freunden. (Wenn man verheiratet ist, kann man nach etwa fünf Jahren langsam daran denken, die Gewohnheit schrittweise aufzugeben. Aber nur, wenn niemand zusieht.) Wenn Euch Freunde zum Abendessen einladen, müsst Ihr einige Male ablehnen, um herauszufinden, ob es sich um eine aufrichtige Einladung oder nur um verwirrende Höflichkeit handelt. Auf keinen Fall dürft Ihr sofort zuschlagen, wenn Euch ein Nachschlag, Nachtisch oder Wein angeboten wird. Und man fragt auch nicht nach dem Weg zur Toilette, sondern man beginnt mit: „Ihr habt ein sehr schönes Haus!“

Als Deutschen, getrimmt auf Effizienz und Direktheit, treibt mich Taarof in den Wahnsinn. Viel zu spät fiel mir auf, dass die Einladung von Sitznachbarn im Flugzeug, eine Woche in ihrem Haus zu verbringen, vielleicht auch Taarof war. Die Perser finden uns Westler ein bisschen, ähm, ungehobelt.

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Auch in ernsten Situationen finden die Iraner noch Zeit für Taarof. Wenn jemand vom Dach fällt und sich das Bein bricht, ruft er den Arzt an, um sich nach dem Wohlergehen von dessen Kindern zu erkundigen. Der Arzt weiß natürlich, dass es sich um Taarof handelt, und fragt, was das Problem sei. „Ach, eigentlich nichts, ich will Sie nicht behelligen“, sagen die Leute dann. Das geht ein bisschen hin und her, bis der Verblutende kurz vor der Ohnmacht zugibt: “Wissen Sie, mein Fuß juckt ein bisschen, und ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht eines Tages, wenn Sie mal Zeit haben, einen Blick darauf werfen könnten?“

Ich sah im Iran viele Menschen, denen ein Bein amputiert worden war.

Eingebetteter Medieninhalt

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Wenn ich so darüber nachdenke, war die eine Woche, die ich auf Einladung des iranischen Geheimdienstes im Evin-Gefängnis verbrachte, vielleicht auch Taarof gewesen. Ich hätte einfach etwas nachdrücklicher ablehnen sollen.

Links:

  • Das mit den Amputationen war kein Witz. Leider. Der blau-gelbe Kasten neben dem Taxi (fotografiert in Schiras) ist für Spenden für Veteranen aus dem Krieg mit dem Irak in den 1980er Jahren. Ähnlich meinem Spendenaufruf, wenn ich darauf mit meiner direkten Art, die Anhänger des Taarof als so roh wie das Rohöl im Persischen Golf empfinden, hinweisen darf.
  • Aber dafür bekommt Ihr noch mehr Geschichten aus dem Iran.
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Geschrieben von

Andreas Moser

Nach Abschlüssen in Jura und Philosophie studiere ich jetzt Geschichte, ziehe um die Welt und schreibe darüber.

Andreas Moser

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