Was bedeuten die neuen ICE-Namen?

Deutsche Bahn Eine amüsante Geschichtsstunde.

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Ich bin viel auf Bahnhöfen unterwegs, aber noch nie habe ich jemanden fragen gehört „Auf welchem Gleis fährt der Fernzug Joseph Haydn ab?“ Züge sind durch (geschätzte) Abfahrts- und (erhoffte) Ankunftszeiten und durch die End- oder Zwischenhaltestellen ausreichend zu identifizieren und benötigen deshalb, anders als Katzen oder Hunde, keine Namen.

Dennoch hat die Deutsche Bahn entschieden, die ICEs zu „taufen“, wobei natürlich – sehr kreativ in diesem lutherübersättigten Jahr – der antisemitische Fundamentalist als erstes zum und auf den Zug kam.

Gerade hat Deutschlands beliebtestes Transportunternehmen 25 Namen für die ab 2018 fahrenden ICE-Züge der viertenDimensionGeneration bekanntgegeben. Da die Liste unkommentiert veröffentlicht wurde, obliegt es mir, zu enthüllen, was die Namen für die Reisenden zu bedeuten haben:

Im Zug Karl Marx wird man statt der gewohnten ersten und zweiten die Proletarier- und die Kapitalistenklasse finden. Da der Lokführer zu ersterer gehört, kann es vorkommen, dass er sich auf halber Strecke der Entfremdung seiner Arbeit bewusst wird und diese hinwirft oder gar zur Oktoberrevolution in die Waggons der Bourgeoisie stürmt. Auf jeden Fall wird Karl Marx bei jedem Arbeitskampf als erstes bestreikt.

Die Lokführer der ICEs Karl Marx und Adolph Kolping sind übrigens bekannt dafür, in der Betriebskantine endlos über den richtigen Weg der Arbeiterklasse aus der Armut zu streiten.

Ihr bucht Eure Fahrt also besser im ICE Konrad Adenauer, der zuverlässig und bis ins hohe Alter immer gen Westen fährt.

Verspätungen wird es mit Hedwig Dohm nie geben. Ganz im Gegentum: Dieser Zug ist seiner Zeit weit voraus.

Wer es gerne laut hat, kann wählen zwischen Ludwig van Beethoven (Musik), Marlene Dietrich, Hildegard Knef (beide Gesang) und Fritz Walter (besoffene, lärmende und gröhlende Fußballfans).

In den Zügen Ludwig Erhard und Thomas Mann darf man endlich wieder Zigarren rauchen!

Wenn ich schon die Gelegenheit gehabt hätte, den vorliegenden, dann natürlich aber vollständig anders – jedenfalls während des genüsslichen Schmauchens einer Zigarre – verfassten Text im holzgetäfelten und geräuschmildernd beteppichten Salon des sich langsam ins Schweizer Hochgebirge schnaufenden Zuges Thomas Mann zu Papier zu bringen, müsste sich der Leser – hoffentlich kuchen- und kaffeegestärkt – durch die Komplexität eines Kursbuches übersteigende (syn)taktische Konstruktionen kämpfen und würde dabei – so die unerschrockene Hoffnung des Autors – von der Gestaltungskraft unserer deutschen Sprache so begeistert werden, dass er (oder sie, aber darauf achtzugeben war zu Zeiten und in der Gedankenwelt des Schriftstellers, der dem Zug seinen Namen und der Nachwelt seinen Stil gestiftet hat, nicht üblich) sich ganz von selbst und aus innerstem und überzeugtestem Antrieb mit je nach Charakter, Begleitung und bis zum entscheidenen Zeitpunkt genossenen Spirituosen sich unterschiedlich Ausdruck verschaffender Intensität und Vehemenz gegen die sprachliche Unsitte ausspräche (die zu von der Eisenbahnaktiengesellschaft, die trotz dieser Rechtsform der Republik und damit doch irgendwie uns allen gehört, in unregelmäßigen Abständen aber nicht ohne eine gewisse Zuverlässigkeit, die sich die Kunden auch in der eigentlichen Kernaktivität des Unternehmens wünschten, bereits frevelhaft begangenen sprachlichen Unsitten hinzu- und diese nicht einmal übertrifft), Dinge und Orte, die an sich schon zweifelsfrei zu identifizieren sind, wie bei Flughäfen und Universitäten zu beobachten, mit Namen von Personen, die entweder längst verstorben sind und sich deshalb nicht dagegen wehren können, oder die noch im Leben stehen, aber im selbigen noch nichts zustande gebracht haben, das ihren Namen ganz von allein und ohne die Reklametätigkeit eines die Hochtechnologie in die entferntesten Winkel des Landes zu tragen suchenden Unternehmens sogleich in aller Munde und alsdann in aller Konversationslexika brächte, noch darauf hoffen können, dies so demnächstig zu tun, dass sie es noch erleben werden, anzustreichen, obwohl doch… Huch, wir sind schon in Davos? Ich muss aussteigen! Auf Wiedersehen, die Herrschaften.

Wer weniger zugeschwafelt, aber dennoch geistreich unterhalten werden will, fährt einfach bei Erich Kästner oder Heinrich Heine mit. In letzterem bekommt man nachts aber kein Auge zu.

Wer es noch lustiger haben will, muss darauf warten, bis die Deutsche Bahn genügend Zugbegleiter durch ein intensives Humortraining gelotst hat, um den ICEVicco von Bülow vom Stapel zu lassen.

Unbedingt vermeiden sollten Freunde des niveauvollen Humors hingegen den ICE Margarete Steiff, für den Mario Barth schon sein Interesse bekundet hat („Mir ist sogar schon ein Witz eingefallen. Mit ’steif‘! ‚Steif‘, verstehste, ne?“).

Aufgrund der Fluchterfahrungen von Marie Juchacz und Willy Brandt werden diese Züge hauptsächlich auf der Balkanroute eingesetzt, wobei man im ICEWilly Brandt auch mit auf anderen Namen ausgestellten Fahrschein mitgenommen wird. Aber Vorsicht: Der Passagier, der so freundlich anbietet, den Koffer ins Gepäckfach zu heben, könnte ein Spion sein.

Bertha Benz findet sich zwar auf der Liste der Deutschen Bahn, der Name wird aber für den Schienenersatzverkehr freigehalten.

Ob sich Käthe Kollwitz darüber freut, einen Zug zu benennen, in dem zweimals wöchentlich Soldaten das Land durchqueren, um für den Ernstfall das schon besser zu kennen, was sie dann verteidigen sollen?

Wer vorhin bei Thomas Mann überfordert war, für den ist Albert Einstein erst recht nichts. Ich jedenfalls würde in diesem Zug mathematisch und logisch nicht mitkommen und vorzeitig aussteigen.

Im ICE Elisabeth von Thüringen besteht die beste Aussicht darauf, für lau mitfahren zu dürfen. Die Schaffner hier haben besonders viel Mitgefühl. Allerdings wird die Deutsche Bahn nicht lange Freude an diesem Zug haben, weil auch Ungarn Anspruch darauf erhebt.

Der ICE Alexander von Humboldt sollte ein Entdeckerzug sein, ohne feste Route, ohne festen Ankunftsort und ohne Zeitplan. Man fährt einfach los und lässt sich überraschen, da es – mit der richtigen Einstellung – überall interessant ist.

Bei den nach Anne Frank, Dietrich Bonhoeffer und den Geschwistern Scholl benannten Zügen wäre ich vorsichtig und würde lieber nicht bis zur End(lösungs)station sitzenbleiben.

Aber jetzt ganz im Ernst: Die Deutsche Reichsbahn spielte eine wesentliche Rolle beim Holocaust. Gerade das Wissen um die oft tagelangen Deportationen von mitten im damaligen Reichsgebiet gelegenen Bahnhöfen machen die „Wir haben nichts gewusst“-Nachkriegsausrede unglaubwürdig. Dazu gibt es an einigen Bahnhöfen Mahnmale, an denen man aber, insbesondere in der Bahnhofsumgebungen nicht uneigentümlichen Eile, oft gedankenlos vorbeiläuft. Wenn die Benennung von Zügen nach Opfern des Holocaust dazu führt, dass man sich darüber mal wieder Gedanken macht oder gar mit Mitreisenden diskutiert – wofür sich insbesondere der ICE Hannah Arendt anbietet -, dann halte ich das für eine gute Sache.

Ich habe übrigens noch einen Geheimtipp für die Deutsche Bahn: Wenn Ihr einen Zug oder einen Bahnhof nach Heydar Aliyev benennt, wird Aserbaidschan die kompletten Kosten dafür übernehmen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Moser

Nach Abschlüssen in Jura und Philosophie studiere ich jetzt Geschichte, ziehe um die Welt und schreibe darüber.

Andreas Moser

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