Kein Ruhmesblatt der Kritischen Intelligenz

Israel Israels Intellektuelle haben sich nach dem Einmarsch in Gaza in den patriotischen Konsens im Land gefügt. Sie übersehen den Terror gegen die arabische Zivilbevölkerung.

Israels Kriege stellten die kritische Intelligenz des Landes stets vor ein Problem. Zum einen war sie Teil eines Kollektivs im Ausnahmezustand, verpflichtet, an seinen Ängsten, Nöten und Hoffnungen teilzuhaben, zumal ja – so das traditionelle Klischee – die Musen ohnehin zu schweigen haben, wenn die Kanonen donnern. Zum anderen wußte aber gerade diese kritische Intelligenz um den gravierenden Schuldanteil der Politik Israels an der periodisch ausbrechenden Gewalt und ihrer Eskalation. Der intellektuellen Redlichkeit und ihrem Selbstbild als Platzhalterin des kritischen Bewußtseins schuldete sie es, sich gängigen Konsenszwängen und ideologischen Vorgaben reflektiert zu widersetzen. Das patriotische Postulat kollidierte stets zwangsläufig mit der Einsicht in seine ideologisch beseelte Vermeintlichkeit.

Hatten aber der erste Libanonkrieg und die einige Jahre später erfolgte erste Intifada eine neue Legitimationsschema für das Selbstverständnis des kritischen Bewußtseins geschaffen, quasi eine öffentliche Anerkennung der Überdrussstimmung an den sich fortwährend erneuernden Gewaltzirkeln des Nahostkonflikts, eine Legitimation, die dann im Oslo-Prozeß der 1990er Jahre zur vollen Entfaltung gelangen sollte, so brach mit dem abrupten Ende dieses Prozesses und dem Ausbruch der zweiten Intifada das Fundament dieses politisch-moralischen Kompasses im öffentlichem Diskurs kläglich zusammen. Die gesamte zionistische Linke schien aufzuatmen, sich an der eigenen Verwirrung nachgerade zu ergötzen und nahm die Narrative der israelischen Oslo-Politiker, denen zufolge sich nunmehr erwiesen habe, daß es auf palästinensischer Seite keinen Gesprächspartner gebe, bereitwillig an. Man gefiel sich als heimkehrende verlorene Söhne und wärmte sich am nunmehr besonders kräftig lodernden nationalen Stammesfeuer. Das kritische Bewußtsein wurde übereinstimmend zu Grabe getragen beziehungsweise an die marginalisierte israelkritische Linke delegiert. Dies fiel umso leichter, ließ mithin die intellektuelle Gewissensnot gemütlich einschlafen, als die neuen Kräfte im feindlich-kriegerischen Spielfeld, die Hisbollah und die Hamas, in der Tat weniger "sympathisch" waren, gleichsam untauglich für linke israelische Solidarität und gutmenschliche Empathie. Eine Mentalität griff um sich, sich selbst in der Rolle des Opfers zu sehen – verdrängt dabei das brutale Okkupationsregime, die systematische Unterdrückung der Palästinenser, verdrängt auch die um sich greifende Entseelung jeglicher Friedensperspektive.

Und so stellt sich der mittlerweile in die zweite Woche gegangene Gazakrieg als bedrückender Bankrott der kritischen Intelligenz Israels dar. Was sich bereits im zweiten Libanonkrieg abzeichnete, ist nunmehr an seinen Kulminationspunkt gelangt: die selbst auferlegte Gleichschaltung und freiwillig angenommene Entmächtigung. Es wird allenthalben viel geschrieben, viel geredet, aber die kritische Reflexion über die Wirkzusammenhänge der neu ausgebrochenen Barbarei ist mit wenigen, auf eine Feigenblattfunktion reduzierten Ausnahmen kaum noch zu hören und zu lesen. Partei- und lagerübergreifend schweigt man im noch besten Fall, suhlt sich aber ansonsten genüßlich im patriotischen Konsens der vermeintlichen Alternativlosigkeit zum Nun-mal-so-Geschehenen, während jahrelang Erprobtes den öffentlichen Raum dominiert – jene Mischung aus medialer Selbstgefälligkeit und narzißtischer Betroffenheit, aus gewachsener Verhärtung gegenüber der Leiderfahrung der Zivilbevölkerung im bombardierten Feindesland, der offenen Feindseligkeit gegen die Araber im eigenen Land, einer allseits verinnerlichten Selbstmitleidsideologie, einer im Kollektivkitsch aufgehenden Sentimentalität und "volkstümlichen" Überspanntheit, vor allem aber einer nie versiegenden, zutiefst verblendeten Selbstgerechtigkeit. Früher oder später wird die Eule der Minerva wieder ihren Flug beginnen. Welche nahöstliche Dämmerung dabei eingebrochen sein wird, muß sich erst erweisen. Ein Ruhmesblatt der kritischen Intelligenz Israels wird es aber auf keinen Fall mehr sein.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden