Ein guter Rat in Zeiten polemischer Debatten

Ein Kommentar Oder wie die Angst vor dem „nordafrikanischen“ Mann als Rassismus entlarvt werden kann

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Ein guter Rat in Zeiten polemischer Debatten

Bild: Sascha Schuermann/Getty Images

In Zeiten polemischer Debatten und voreiliger Kommentare bedarf es eines Kommentars, der an die Komplexität der Sache erinnert. Der folgende Kommentar war ursprünglich ein Rat an einen Bekannten, der nach meiner Meinung fragte, und kann nun als Leitfaden durch die Debatte um die Ereignisse in Köln und die Flüchtlingsbewegungen gelesen werden. (Folgender FAZ-Beitrag wird dekonstruiert)

Danke, dass du mich hierzu zu Rate ziehst. Tatsächlich beschäftige ich mich viel mit dem Nahen Osten, mit Feminismus und vor allem mit Rassismus und habe zu dem Selbstgespräch in den deutschen Medien sehr viel zu sagen. Der Gastbeitrag und Kommentar von Samuel Schirmbeck für die FAZ sticht meiner Meinung nach auch nicht heraus aus der „momentanen deutschen Presselandschaft“, wie du sagtest, sondern ist ein Paradebeispiel für die polemische Debatte, die geführt wird. Ich mache weder dir, noch sonst einem Leser dieser Beiträge Vorwürfe. Es gibt so viele von diesen Kommentaren, und sie sind so reißerisch und beeindruckend. Sie alle wollen den gutgemeinten Relativierungsversuchen der Naiven ein Ende bereiten und wahre Worte verkünden.

Ich werde dir nicht die wahre Essenz der„giftige[n] Mischung aus nordafrikanisch-arabischer Kultur und Religion“erklären können, wie Herr Schirmbeck, der diese in seinen zehn Jahren im Ausland erfasst zu haben scheint. Ich möchte aber Verwirrung anstiften und dir zeigen, dass ich in meinen nur drei kurzen Jahren Studium gelernt habe, dass es immer komplexer ist.

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Der Sexismus ist real

Natürlich erzählen diese Polemiker keine Märchen: Es gibt diesen ekelhaften Sexismus, den sie beschreiben und den die Frauen bei dem Vorfall und in den Beispielen von Herrn Schirmbeck erfahren haben. Und ja, dieser Sexismus kommt in allen Formen und Farben vor. Und sehr wahrscheinlich ist die Gesellschaft in Marroko oder Algerien stark partriarchal geprägt und verlangt, dekonstruiert und überwunden zu werden. Und ja womöglich waren die Täter von Köln in eben solchen Gesellschaften sozialisiert und zudem auch noch alkoholisiert und dumm. Aber der Sexismus und das Patriarchat sind keine genuin islamischen oder arabischen Phänomene. Der Islam (der von Menschen gelesen und gelebt werden muss, um überhaupt diese oder jene Form anzunehmen) ist zudem nicht sexistischer als das Christentum oder der Hinduismus oder gar der Buddhismus. Selbst säkulare Ideologien und der kapitalistische Markt sind sexistisch und werden es bleiben, so lange wir Menschen unsere sexistischen Ansichten in allem Aufrecht erhalten. Der Sexismus ist so alt wie die Entdeckung der Macht. Der Rassismus übrigens auch ,und wenn wir diese Debatte weiterhin auf diese Art und Weise führen, werden wir weder das eine noch das andere überwinden können.

Machtverhältnisse sind immer politisch

Von Einzeltätern auf eine Gruppe von rund einer Million Flüchtlinge in Deutschland und von diesen wiederum auf noch mehr, auf alle muslimischen oder nordafrikanischen Männer zu schließen, ist rassistisch. Den Grund für den Sexismus in ihren Herkunftsländern ausschließlich und allein in einer verallgemeinernden Idee einer vermeintlich kollektiven Idenität zu suchen auch. Sie zwingt den nordafrikanischen Männern eine Essentialisierung auf, die wir selbst in unserem Indvidualismus vehemment ablehnen würden.

Schirmbeck zitiert die ägyptische Schriftstellerin Mona Eltahawy: „Nennen Sie mir den Namen arabischer Länder, und ich werde Ihnen eine Litanei an Beispielen für den schlimmen Umgang […] mit Frauen rezitieren, der von einer giftigen Mischung aus Kultur und Religion angefacht wird, mit der sich anscheinend nur wenige auseinandersetzen wollen, aus Angst, der Blasphemie beschuldigt zu werden oder zu schockieren“ und fordert, dass der fremde Sexismus, der nun in Köln angekommen ist, nicht mehr von linker und muslimischer Seite geleugnet wird. Dabei leugnet und verschönert niemand den Sexismus – lasst ihn uns anprangern. Doch diesen zu kulturalisieren und Vergleiche zwischen Algerien und Deutschland aufzustellen, als ob der einzige Unterschied die Religion sei, ist einfältig: „Sexuelle Übergriffe sind in islamischen Ländern die Regel und nicht Ausnahmen. Eine Muslimin kann in Deutschland den Bus nehmen, ohne befürchten zu müssen, begrabscht zu werden, eine Europäerin in Nordafrika kann das nicht“, so Schirmbeck. Der Grund für die vergleichbar große Freiheit der Frau in Deutschland und der Diskriminierung und Unfreiheit in Algerien zum Beispiel liegt doch vodergründig in der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit der Freiheit des Individuums an sich. Derartige intellektuelle Debatten, welche die Frau miteinbeziehen, sind selbst in Deutschland und Europa so jung, dass mir Microsoft Word das Wort Gender rot anstreicht. Andauernd sprechen die polemischen Autoren von der Aufklärung, als ob diese die Gleichstellung der Frau eingeführt hätte. Das hat sie nicht und sie war zudem so sexistisch und rassistisch wie Kant es war, der glaubte eine denkende Frau sei entartet und die Frau von Natur aus unvernünftig und unmündig. Der Sexismus ist so tief verankert in der europäischen Ideengeschichte und hat so langer Diskussion bedurft und tut es heute noch, dass es anmaßend ist, eine vergleichbare Debatte von Gesellschaften zu fordern, die in einem autoritären Regime leben und aufwachsen. Wie soll denn eine kritische Debatte um Machtverhältnisse funktionieren unter Zensur oder gar eine fruchtbare soziale Bewegung anwachsen? Bis vor kurzem waren fast alle arabischen Staaten (Militär-)Diktaturen oder Monarchien und davor Kolonien ausbeuterischer und unterdrückerischer europäischer Imperien. Da liegt es doch näher, die sozialen Missstände oder die intellektuelle Stagnation im Mainstream auf politische Ursachen zurückzuführen als auf den Islam (der in seiner Geschichte durchaus auch Quelle von Fortschritt und Denken gewesen ist, wenn die Machthaber es ihren Untertanen erlaubt haben).

Das Übel der Verallgemeinerung

Das Problem von Schirmbecks Kommentar und der Debatte insgesamt ist die Verallgemeinerung: Wer ist alles mit Nordafrikaner gemeint? Der sexuell-frustrierte Macho von der Straße oder auch der friedliche und liebevolle Bäcker? Was ist mit muslimischer oder islamischer Welt gemeint? Das klingt ja wie der Ost-Block im kalten Krieg. Haben die vermeintlichen „islamischen“ Staaten tatsächlich so viel miteinander zu tun oder die Muslime in Nordafrika? Was ist diese islamische Welt, die jeder so gut zusammenzufassen weiß? Denken sie dabei eigentlich auch an Südostasien oder an die Muslime im europäischen Bosnien? Verallgmeinerung bedeutet von 1000 Dingen gleichzeitig zu sprechen und zu glauben, dasselbe zu meinen. So jonglieren Autoren wie Schirmbeck mit Fallbeispielen aus völlig unterschiedlichen Kontexten: Ein bisschen Ägypten, ein bisschen Marroko und nicht den Wahhabismus in Saudi-Arabien vergessen. Sie sprechen von Arabern, als wären sie alle Muslime und von Muslimen, als wären sie alle Salafisten. Natürlich erscheint das aus einer weißen, eurozentrischen Perspektive irrelevant und penibel, ist aber durchaus wichtig, um nicht in populistische und rassistische Argumentationsstrukturen zu verfallen – wo die anderen weniger komplex und indivduell sind als man selbst.

Der Mythos vom immer-frommen Muslim

Überhaupt verstehe ich nicht, warum so viele in der Debatte glauben, dass vermeintliche Muslime einzig und allein muslimisch sind und es keinerlei andere Einflussfaktoren für ihr Verhalten oder ihre Ansichten gibt außer dem Islam oder „ihrer Kultur“. Als wären sie nicht auch auch Kinder ihrer Zeit (der Kolonialisierung, Industrialisierung, Globalisierung), Angehörige einer sozialen Schicht, Schüler eines bestimmten Bildungssystems, Bürger eines spezifischen Machtgefüges oder Konsumenten populistischer Medien. Warum denken so viele, dass das Verhalten eines Muslims immer in einer religiösen Überzeugung oder in der islamischen Theologie wurzelt? Als wären all die Sexisten, Grabscher und Vergewaltiger da draußen reflektierte Menschen, die sich besonders viele Gedanken machen. Wissen wir überhaupt, ob sich alle Täter von Köln als Muslime identifizieren? Und konnten wir sie bereits alle identifizieren?

Der Unterschied zwischen konstruktiver Kritik und Rassismus

Es sind Behauptungen über Behauptungen, die einhergehen mit rassifizierten und kulturalisierten Pauschaulisierungen. Dabei schämt sich mittlerweile niemand mehr, sich in seinen eigenen Vorurteilen zu suhlen und diese zur Schau zu stellen. Doch es ist und bleibt rassistisch, von einer vagen Gruppe von „Nordafrikanern“ oder „muslimsichen Männern“ zu sprechen, denen man ohne weitere Differenzierung kollektive Charakterzüge andichtet ungeachtet ihrer individuellen Biografie. Es wird auch nicht weniger rassistisch, wenn es eine ägyptische Schriftstellerin tut. Auch Araber selbst können Araber rassifzieren und verallgemeinern. Siehe Hamed Abdel Samad oder einige der Autoren, die Schirmbeck aufzählt und verteidigt. Denn wer Necla Kelek oder Ayaan Hirsi Ali zu Rate zieht, dem müssen wir fehlende Bildung attestieren. Es gibt so viele progressive Stimmen in der arabischen Welt, die weitaus kompetenter urteilen als die Spiegel-Bestseller und Talkshow-Gäste im deutschen Mainstream und vor allem konstruktive Kritik ausüben, ohne ein ganzes Volk oder gar eine Ethnie zu denunzieren. So zum Beispiel der Hermeneutiker Nasser Hamed Abu Zaid oder die Soziologin und Feministin Fatima Mernissi oder Amin Maalouf, der unsere Vorstellung der Idenität entlarvt und gekonnt dekonstruiert.

Wie du siehst ist das ein Riesenkosmos, und mittlerweile ist die Islam-Debatte auch ein Markt für sich. Ich werde dir nicht alles erklären können und weiß bei weitem auch nicht über alles Bescheid. Aber ich kann dir einige Tipps geben, wie populistische Artikel wie der von Schirmbeck zu identifizieren sind:

  1. Gruppen werden verallgemeinert
  2. Polemische und abwertende Formulierungen werden verwendet, um verallgmeinerte Menschengruppen zu beschreiben
  3. Historische, politische oder wirtschaftliche Faktoren werden ignoriert
  4. Der Artikel handelt von diskriminierten oder rassifizierten Gruppen (zb. People of Color, Flüchtlinge, Muslime, Juden, Frauen, Transgender, Homosexuelle) und der Autor ist ein weißer heterosexueller Mann mittleren Alters, der für eher konservative Zeitungen schreibt (trifft fast immer zu)
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Moshtari

liest, schreibt und illustriert in Hamburg und der Welt.

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