Vor einigen Jahren schon tauchte eine völlig neue Semantik auf: „Marokko als Rechtsstaat“, „Ein Marokko für alle“, „Verantwortungskultur“, „offener Dialog“, „Gerechtigkeit und Emanzipation“, „Achtung der Menschenrechte“. Die bis dato unbekannten Töne kündigten den Anbruch der Ära von Mohammed VI. an, der mehr als zwei Jahre vor 9/11 König wurde und in Marokko eine behutsame Revolution eingeleitet hat – mehr als elf Jahre vor Ausbruch des Arabischen Frühlings. Mohammed VI. ist es, dem Marokko umfassende politische, soziale und kulturelle Reformen verdankt. Er wollte einen Staat, der nichts mehr mit den Verhältnissen zu tun hat, die auf seinen verstorbenen Vater, König Hassan II., zurückgingen. So wurden im vergangenen Jahrzehnt ethnische Minderheiten anerkannt wie noch nie. Besonders die Berber und ihre Kultur gelten nun als Ausdruck marokkanischer Identität. Um Sprache und Tradition der Berber zu fördern und zu wahren, wurde das Königliche Institut für Berberkultur gegründet. Berberisch wurde in die Lehrpläne aufgenommen und erhielt in den Medien einen höheren Stellenwert als bisher.
Es bedeutete eine Zäsur, mit der „Wahrheitskommission“ ein im arabischen Raum einzigartiges Gremium zu etablieren, das sich mit Menschenrechtsfragen ebenso befasst wie mit der Auflösung geheimer Gefangenenlager. Außerdem sollte die Wahrheitskommission das Schicksal verschwundener Personen erforschen, die in derartigen Camps systematisch gefoltert wurden.
Frauenquote im Parlament
Zweifelsfrei profitieren die Frauen am meisten von dieser stillen Revolution. Nach einer Reform des Familienrechts gelten sie nicht länger als „Untergebene“ des Mannes. Auch ist die Unterzeichnung des Ehevertrags durch einen Ehevormund der Frau abgeschafft. Frauen können inzwischen die Scheidung einreichen oder einen Vaterschaftstest beantragen. Darüber hinaus wurde – trotz heftiger Proteste konservativer Marokkaner – die Untergrenze des Heiratsalters auf 18 Jahre angehoben. Schließlich hat heute auch ein Kind aus der Ehe einer Marokkanerin mit einem Nicht-Marokkaner Anspruch auf die marokkanische Staatsangehörigkeit.
Mehr Gleichberechtigung für Frauen bezeugen nicht zuletzt die Frauenquote im Parlament, die bei mindestens zehn Prozent liegen muss, und die nationalen Frauenlisten. Zudem dürfen Marokkanerinnen inzwischen religiös aktiv werden und im Obersten Gelehrtenrat mitwirken, was bisher nur Männern vorbehalten war.
Im ländlichen Raum wird versucht, durch eine verbesserte Trinkwasser- und Stromversorgung das Gefälle zwischen urbanem und ländlichem Leben zu nivellieren. Bisher ist es misslungen, die Armut zu verbannen und das sich ausbreitende Analphabetentum einzudämmen. Das Bildungswesen bleibt hinter dem zurück, was nötig wäre, und leistet zu wenig, um mehr Gerechtigkeit zu garantieren. Dabei vertraut das Volk zwar dem König, nicht aber dessen Regierung und seinen Freunden.
Pompöser Abgesang
Es stellt sich die Frage, ob es in Marokko gelungen ist, die kulturelle Anbiederung an den Westen, die Geringschätzung gegenüber allem Marokkanischen und den kulturellen Raubbau auszubremsen. Hat man sich inzwischen zum „Anderssein“ bekannt? Wurde das marokkanische Liedgut gefördert? Oder das marokkanische Theater? Wird im Fernsehen eigene Kultur angeboten? Wie angesehen ist ein marokkanischer Schriftsteller? Werden Kultur und Intellektuelle überbewertet? Sind Bücher bezahlbar?
Fragen über Fragen. In jedem Dorf werden mittlerweile folkloristische Kulturfestivals mit Musik, Tanz, gelegentlich auch mit Theater und Filmen veranstaltet, die eher mit läppischem Pomp zu tun haben als mit marokkanischer Kultur – ein greller Stift auf spröden Lippen.
Von welchen „kulturellen Reformen“ sollte also die Rede sein? Fehlt es an Seriosität, um die Einzigartigkeit der marokkanischen Kultur zu respektieren? Der Kulturpolitik fehlt es an klarer Kontur – momentan wird quasi jeder unterstützt, der unseren wackeligen Kulturbetrieb einigermaßen am Laufen hält. Das Gerede von einer Kulturreform bleibt hohl, solange zwischen den Intellektuellen und dem Kulturministerium, aber auch zwischen dem Kulturministerium und der marokkanischen Kultur keinerlei Berührungspunkte bestehen. Die Intellektuellen leiden darunter, dass sie ausgegrenzt, ignoriert und gering geschätzt werden. Sie rebellieren stumm.
Es gibt Marokkaner, die auf die Frage nach den Folgen der internationalen Finanzkrise antworten: „Die gab es bei uns schon immer! Woher sollen wir also wissen, ob Marokko betroffen ist oder nicht?“ Dieselben Marokkaner haben Angst vor einer Revolution wie in Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien oder im Jemen, weil ein solcher Umbruch ihrem Eindruck nach Chaos, Tod, Hunger, Verhaftungen oder Folter bringt. Und es sind dieselben Marokkaner, die bei Wahlen für einen Kandidaten stimmen, dessen Programm sie nicht verstehen, sodass er ihnen das Blaue vom Himmel versprechen kann. Zumeist hat diese Marokkaner der Wandel eines ganzen Jahrzehnts nicht erreicht – anders als die Ober- und Mittelschicht stammen sie aus strukturschwachen Gebieten.
Das heißt, ein junger Marokkaner, der quasi als Fremder im eigenen Land lebt, wird besagten Veränderungen nicht viel abgewinnen können, weil er politische, kulturelle oder soziale Angelegenheiten an sich abperlen lässt. Weil er nichts mit der Identität, geschweige denn Gesellschaftsstruktur seines Landes anfangen kann. Er versteht die Zivilgesellschaft nicht und begnügt sich mit schnelllebigem Konsum. Was interessieren ihn schon Werte und Prinzipien, die in einer neuen Verfassung verankert sein sollen, wenn ihm keiner erklärt, was Gleichberechtigung, Zugehörigkeit zu einem Staat, Gewaltenteilung und Verantwortung überhaupt bedeuten? Wer kann diesen jungen Marokkaner davon überzeugen, dass Reformen gebraucht werden? Vermutlich nur eine Regierung, die für eine glaubwürdige Agenda sorgt und versucht, das Vertrauen der Marokkaner in die Politik und die Politiker zurückzugewinnen.
Mouna Ouafik, 31, ist Journalistin und Schriftstellerin in Rabat. Von ihr erschienen Kurzgeschichten unter dem Titel Minze, Wachs und Tod sowie der Gedichteband Rotes Neon
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