Wo war das? In Frankfurt? In Offenbach? In Karlsruhe, Saarbrücken oder Dortmund? Ist es März 1979 oder bereits November? Oder gar schon Januar oder März 1980? Da! Da steht Rudi Dutschke, nein, eines dieser Treffen muss vor Weihnachten ’79 gewesen sein.
30 Jahre grüne Partei. Ich krame in alten Fotos, halte Schwarz-Weiß-Negative gegen das Licht. Alles wirkt so austauschbar. Immer die gleichen riesigen Hallen, die endlos langen Tischreihen mit unübersehbar vielen Wollpullovern, angezogen oder in nicht fertig gestricktem Zustand, die hohen, düsteren Vorhänge hinter der Bühne, an denen mittig ein kleines buntes Tuch angeheftet ist mit dem Text „Die Grünen – ökologisch, basisdemokratisch, sozial, gewaltfrei“, hergestellt aus diesen handgeschnittenen Stoffbuchstaben, die man bei Demo-Transparenten immer wiederverwenden kann. Darunter ein langer Podiumstisch mit Vertretern vieler Gruppen, Wahllisten und Vereinigungen, eine mühevoll austarierte Mischung aus all den Strömungen, Organisationen und engagierten Sonderlingen, die in der Hoffnung zusammenkommen, sich einen möglichst großen Einfluss auf das sich abzeichnende Projekt einer neuen „bundesweit wählbaren Vereinigung“ (die Gründung einer Partei ist bis zuletzt umstritten) zu ergattern.
Verwegener Haufen
Und immer die gleichen Figuren: Der alte Haudegen August Haußleiter aus Bayern, der 1949 mit einem interkonfessionellen Flügel („Ochsensepp“-Fraktion) die CSU verlassen hatte. Der redegewandte Jürgen Reents aus dem Kommunistischen Bund, der Organisation, die sich gerade spaltet an der Frage, wie eng man sich mit der neuen Partei einlassen soll. Otto Schily, der bekannte RAF-Anwalt, der schon allein durch seinen Auftritt in Anzug plus Krawatte Furore macht. Die zerbrechlich-zähe Petra Kelly, die immer dunkle Ringe unter den Augen hat und unentwegt für die neue Anti-Parteien-Partei kämpft („Micha, ich habe hier ein geheimes Papier für dich, aber – um Himmels Willen – veröffentliche es erst nächste Woche im Arbeiterkampf“). Die Sponti-Raufbolde aus der „Frankfurter Gang“ um Joschka Fischer („Unter dem Pflaster liegt der Strand“). Der erste Ökobauer Deutschlands, Baldur Springmann, eine schrullig-reaktionäre Gestalt mit SS-Vergangenheit und anstößigen Veröffentlichungen beim „Weltbund zum Schutze des Lebens“.
Und dann die Indianerkommune aus Nürnberg: eine Truppe von 20 bis 30 Kindern und Jugendlichen, die auf nahezu jeder Bundesversammlung der neuen Formation i.G. auftaucht, mindestens einmal das Podium stürmt, für zwei Stunden besetzt, „Rederecht für Kinder“ verlangt – und dann ihren Führer sprechen lässt: einen 30-jährigen Pädophilen, der für das „Recht der Kinder auf freie Sexualität“ (mit ihm) eintritt. Auch Rudolf Bahro ist seit Oktober ’79 dabei, frisch entlassen aus DDR-Haft, wo er zu acht Jahren Knast verurteilt worden war, weil er ein Buch für den Sozialismus geschrieben hatte. Auf offener Bühne umarmt er in Karlsruhe Herbert Gruhl, den Ex-CDU’ler und Autor von Ein Planet wird geplündert, der insgeheim stinksauer ist, weil Bahro eben noch die Linken aufgefordert hatte, alle den Grünen beizutreten.
Die Linken sind deshalb stinksauer auf Rudolf Bahro, denn sie hoffen bis zum Schluss, sie könnten sich ohne individuellen Beitritt in die neue Formation eine Autonomie bewahren, um nicht in diesen unheimlichen Ideen-Malstrom reingezogen zu werden und sich dabei aufzulösen. Die Zeiten sind sowieso hart genug, der Deutsche Herbst ist gerade erst zwei Jahre her und die Zweifel an mühsam gehegten radikalen Positionen wachsen unaufhörlich.
Frustration und Euphorie
Aber daraus wird nichts. Der bekannte Hamburger Radio- und TV-Sprecher Henning Venske (Sesamstraße) trägt eine letzte Warnung vor: „Ihr hackt euch hier das linke Bein ab, und wisst noch nicht einmal, auf welchen Krücken ihr den Rechten davonlaufen wollt!“ Aber schon allein, um die 4,5 Millionen Mark Wahlkampfgelder, die die Vorläufer-Vereinigung bei der Europawahl im Juni eingesackt hatte, für den neuen Laden zu retten, bleibt es bei der geplanten Parteigründung.
Tausende Möglichkeiten, sich zu streiten. Ideologische Widersprüche, soweit das Auge reicht. Linke Gewerkschaftsopposition, Blut- und Boden-Träume, esoterische Gesellschaftsmodelle, trotzkistische Entrismusphantasien, ökologisch begründete Verzichtsappelle. Radikale aus der CSU, Dissidenten aus der SED, Überläufer aus der KPD/AO. Eine Stimmung entsteht, die ständig zwischen abgrundtiefer Frustration über so viele falsche Ansichten und euphorischer Begeisterung über so viele neue Freunde und Brückenköpfe in fremde ideologische Lager schwankt. Die Emotionen wabern. Tränen, Aggressionen, protestantische Disziplin und wieder Tränen.
Es ist die hohe Zeit der Pathetiker und Kompromissler. Wer einen scheinbar goldenen Mittelweg zwischen unvereinbaren Positionen findet, verdient sich höchste Ehren. „Wir sind nicht links oder rechts, wir sind vorn“ ist einer dieser unnachahmlichen Formulierungstricks. Und wenn in der größten Not, kurz vor der allgemeinen Explosion, der 75-jährige August Haußleiter mit donnerndem Pathos ruft: „Ihr lieben grünen Freunde! Wir stehen mit unserer Partei vor einer kopernikanischen Wende! Chaos herrscht, wo ein Stern geboren wird!“ – spätestens dann liegen sich alle wieder in den Armen.
Einer lässt sich von all dem nicht aus der Ruhe bringen. Cool, freundlich, sympathisch bewegt sich ein junger Mann durch die Reihen und Grüppchen im Saal, besucht die kleinen und großen Abspaltungs- und Versöhnungs-Treffen. Er redet mit jedem, ihm wird alles erzählt, weil er so nett ist und offenkundig zu keinem Lager gehört. Günter Bannas von der FAZ schreibt immer die besten Artikel über die vielen grünen Treffen, er weiß mehr als alle anderen, und seine Texte hinterher zu lesen, ist fast, als wäre man dabeigewesen. Da kann man dann auch erfahren, in welcher Stadt man am Wochenende gewesen ist.
Michael Pickardt arbeitet seit 14 Jahren als technischer CvD für den Freitag.
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