Das rechte Lager und die Kosmopolit*innen

Rechtspopulismus Der neue Sündenbock, der "Kosmopolit", ist leider ein altes Muster rechten Denkens, das aktuell wiederbelebt wird. Umso wichtiger ist es, rechtes Denken zu entschlüsseln

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Berlin – da, wo die Kosmopoliten wohnen
Berlin – da, wo die Kosmopoliten wohnen

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Der Angriff gegenüber Linksliberalen mit Titeln wie „Die liberale Illusion“ (Nils Heisterhagen 2018, Bonn) oder neuerdings auch „Die Illusion der Linksliberalen“ (Cornelia Koppetsch 2019, in: FUTURZWEI 10/2019, online: https://taz.de/Cornelia-Koppetsch-ueber-Rechtspopulismus/!169769/) lenkt in fundamentaler Weise von dem wahren Kern rechtsradikaler und chauvinistisch-protektionistischer Einstellungen ab, die sich nicht neu entwickelt haben. Sie bilden vielmehr eine Konstante eines Teils der Bevölkerung, die mit der Faustformel seit den 1990er Jahren auf etwa 20 Prozent plus minus X geschätzt wird. Nun sollen aber die Linksliberalen oder nach Heisterhagen, Koppetsch und zuvor schon Wolfgang Merkel (2017: Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Philipp Harfst/Ina Kubbe/Thomas Poguntke (Hg.): Parties, Governments and Elites. Vergleichende Politikwissenschaft, Wiesbaden, S. 9-23) Kosmopolit*innen für das Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD) verantwortlich sein? Dieses Ablenkungsmanöver findet denselben Gegner, den auch die Rechtspopulist*innen und Rechtsradikalen schon seit jeher auserkoren haben. Hier werden Verantwortungslogiken vertauscht und neue Sündenböcke wie die Kosmopolit*innen gefunden, statt die wirklichen Legitimationsmuster rechter Herrschaft zu entlarven. Bereits Johannes Simon (2018: Wer sind nur diese Kosmopoliten?, in: der Freitag 16.08.2018, online: https://www.freitag.de/autoren/josimon/wer-sind-nur-diese-kosmopoliten) hatte darauf hingewiesen, dass die Theorie des ehemaligen rechtsradikalen Beraters von Donald Trump, Steve Bannon, sich z.B. in dem Buch „Road to Somewhere“ von David Goodhart, und in dem vermeintlichen Gegensatz zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen fortlebt. Der Freihandel aber sei, so Simon, alles andere als kosmopolitisch (Stichwort Standortnationalismus). Vielmehr werde z.B. von Wolfgang Merkel der vermeintliche Gegensatz eröffnet, um nur noch darüber zu diskutieren, wie die Schließung der Grenzen zu erfolgen habe.

Das von Simon zu Recht als reaktionär kontextualisierte Narrativ „Kosmopoliten versus Kommunitaristen“, das die Entrechtung der Arbeitnehmer*innen durch eine Diskursverschiebung verschleiert, soll hier aufgegriffen und um eine Analyse des rechten Lagers und seiner errungenen Diskurshoheit erweitert werden. Wir stellen uns dabei folgende Fragen: Wer ist das rechte Lager und wie konnte es zur Diskurshoheit insbesondere in der Migrationspolitik kommen?

Das bereits genannte deutlich rechts eingestellte Fünftel der Bevölkerung bestimmte im Bündnis mit der sogenannten gemäßigteren konservativen Mitte vor allem die Asyl- und Flüchtlingspolitik maßgeblich mit. Neben der Union hatte sich die SPD 1993 auf eine extrem restriktive Asylpolitik geeinigt, die Asylbewerber*innen kaum noch Chancen ließ, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Mittels Verfassungsänderung wurde das Drittstaatenprinzip eingeführt, nach dem niemand einen Asylantrag stellen durfte, der über ein Drittland eingereist war. Deutschland entledigte sich eines Großteils der menschenrechtlichen Verantwortung für Geflüchtete. Eine qualifizierte parlamentarische Mehrheit hatte autoritär-rechten Minderheitspositionen nachgegeben. Voraus gegangen waren Exzesse von rechtsextremen Gewalttäter*innen, die teils gemeinsam mit Unterstützung eines radikalisierten Teils der Bevölkerung Anschläge auf Asylbewerber*innenheime verübt hatten.

Erfreulicherweise hat der Historiker Karsten Krampitz (Hufeisen im Hirn, in: Der Freitag vom 07.11.2019, S. 3) daran erinnert, wie sehr die Union schon seit Konrad Adenauer bis heute die Rechtsradikalen verharmlost. An die Stelle einer eindeutigen Kritik ist, so Krampitz, in der Union die Hufseisentheorie gerückt, nach der Rechts- und Linksradikale gleichermaßen zu bekämpfen sind. So wurden AfD und Die Linke z.B. von Mike Mohring, dem thüringischen CDU-Fraktions- und CDU-Landesvorsitzenden sowie Spitzenkandidaten, während des Landtagswahlkampfes 2019, einfach gleichgesetzt. Schon 1992 spielte die Union ihr Versagen beim Schutz der Flüchtlinge während der Anschläge in Rostock-Lichtenhagen herunter und verharmloste die Gewalttaten. Helmut Kohl erklärte gar, so Krampitz weiter, die Stasi zum Anstifter dieser Anschläge. Genau „solche Legenden und Debatten boten den geistigen Nährboden für das Anwachsen der rechtsradikalen Gegenkultur, auch und erst recht in Thüringen“ (Krampitz), wo der Verfassungsschutz im Umgang mit Rechtsradikalen versagte.

Während Krampitz die Verantwortlichen genau benennt, versuchen andere, nun Linksliberale zur Verantwortung zu ziehen und blenden damit aus, wer die Hauptverantwortlichen sind. Die Verwirrung beginnt schon mit dem Begriff der Linksliberalen, dem Hauptgegner der Rechten in den USA: Sie sollennun auch in Deutschland und Europa für die Spaltung der Bevölkerung in Eliten und Deklassierte verantwortlich sein? An die Stelle bisheriger linker Kritik am Neoliberalismus tritt nun der Linksliberalismus? Dabei war es doch der Neoliberalismus und Neokonservatismus, der schon in den 1980er Jahren mit Reaganomics und Thatcherismus den Gewerkschaften in den USA und Großbritannien das Rückgrat brach und einen ungehemmten Marktradikalismus einführte. Zuvor war es bereits in Chile mit einem rechten Putsch des Generals Augusto Pinochet (1973) gelungen, einen autoritären Neoliberalismus (Milton Friedman) durchzusetzen (zu Chile, aber auch zu Osteuropa und weiteren Beispielen vgl. z.B. Naomi Klein 2007: Die Schock-Strategie, Frankfurt a.M.). Kohl war im Vergleich zu Pinochet, Reagan und Thatcher zwar zaghafter, weil er die Gewerkschaften fürchtete. Aber auch er begann mit einer Politik des Sozialstaatsabbaus (bspw. Rentenkürzung, zwischenzeitliche Abschaffung des Schlechtwettergeldes und vieles mehr).

Osteuropa und Ostdeutschland wurden zu einem neoliberalen „Experimentierfeld“ der Deregulierung und Privatisierung, wie Philipp Ther in seinem 2016/2019 (Frankfurt a.M.) publizierten Werk „Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ feststellt und ausführt. Nicht allein in Ostdeutschland (Treuhand), sondern in ganz Osteuropa wurden Staatsbetriebe zu Spottpreisen verkauft. Die radikalen Privatisierer kümmerten sich nicht um den Verbleib und das Wohlbefinden der Beschäftigten. Sie waren lediglich Spielball dieses radikalen Neoliberalismus.

Diese radikale Form der Deregulierung war in Kombination mit der Verharmlosung und indirekten Legitimation rechtsradikalen Denkens und Handelns der Nährboden für die spätere direkte Legitimation rechtsradikalen Denkens und ihrer politischen Repräsentation in Form der AfD.

Die AfD schien zwar zunächst eine vorwiegend neoliberale, chauvinistische Partei zu sein, die sich gegen den Euro sowie die weiteren Kredite und Rettungspakete für Griechenland wendete. Sie war jedoch von Anfang an eine Partei von drei autoritären bis rechtsradikalen Strömungen:

  • einer neoliberalen, chauvinistischen Strömung um Bernd Lucke und Frauke Petry (beide inzwischen aus der AfD im Kampf um die Macht unterlegen und ausgetreten) sowie Alice Weidel;
  • einer nationalkonservativen Strömung um den ehemaligen CDU-Politiker Alexander Gauland;
  • einer rechtsradikalen Strömung mit deutlichen nationalsozialistischen Anleihen um den Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke, mit dem sich Gauland verbunden hat und von ihm kaum noch unterscheidbar ist (vgl. auch Max Reinhardt 2015: Autoritäre Milieus, autoritäre gesellschaftspolitische Lager und Parteipräferenzen im Wandel? Biedermann und die Brandstifter, in:spw 3/2015, S. 26-34).

Keine dieser Strömungen fordert einen Ausbau sozialer Rechte, sozialer Daseinsvorsorge oder mehr Verteilungsgerechtigkeit für Arbeitnehmer*innen oder Arbeitslose; im Gegenteil: Die AfD-Strömungen stehen für einen Abbau sozialer Rechte ein. Ihre Führungseliten stammen zum Großteil aus dem konservativ-gehobenen Bürger*innentum und Kleinbürger*innentum. Ihre Diskurse zielen neben einer Deregulierung und Flexibilisierung sowie einer nationalistischen Politik auf die Ausgrenzung aller als fremd wahrgenommenen Gruppen und Minderheiten. Wenn überhaupt, geht es ihnen um exklusive völkische Solidarität, die mit Ausgrenzung und der Loslösung von europäischer und internationaler Kooperation verknüpft wird.

Das Erstarken der AfD nahm zunächst mit der leichten Entspannung der ökonomischen und finanziellen Krise in Europa wieder ab. Es waren zwei Ereignisse, die die AfD wieder stärkten:

  • Die politische Entscheidung für eine Öffnung der Grenzen als humanitäre Rettungsmaßnahme für die Flüchtlinge, die in Ungarn in Lagern vor sich hinvegitierten. Die AfD und Pegida konstruierten hieraus einen staatlichen Kontrollverlust, obwohl es sich um eine gezielte Rettungsmaßnahme handelte.
  • Die Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln, die die Vorstellung von Flüchtlingen als archaisch und gewalttätig vorherrschend werden ließen. Fortan war die Grenzöffnung auch in der Mehrheit der Medien zunehmend kein menschlicher Akt mehr, sondern eine Bedrohung durch Fremde im eigenen Land („Flüchtlingsstrom“).

Diese Vorstellungen wurden auf der Ebene der politischen Repräsentation von den oben genannten drei Strömungen mitgetragen. Bereits für Anfang der 1990er konnte nachgewiesen werden, dass auf der Alltagsebene unterschiedliche soziale Milieus bzw. Klassenfraktionen autoritäre Einstellungen haben und zwar mal eindeutig rechtsradikale, mal chauvinistische Einstellungen, die insgesamt ca. 27 Prozent der Befragten ausmachen und die rechtspopulistische, teils sogar rechtsradikale Parteien wählen (vgl. Michael Vester 2017: Der Kampf um soziale Gerechtigkeit, https://www.spw.de/data/michael_vester.pdf, S. 32).

Allerdings spielt es keine entscheidende Rolle, ob diese sozialen Milieus in der Union oder der AfD repräsentiert sind. Im Ergebnis erscheint die AfD zunächst einfach bedrohlicher, wenn sie diese radikalisierten Teile der kleinbürgerlichen und gehobenen konservativen Milieus repräsentiert. Aber auch in den 1990er Jahren waren die Folgen im Prinzip ähnliche: eine restriktive Asylpolitik und lange Zeit auch eine restriktive Geschlechterpolitik. In den letzten Jahren wich die Öffnung gegenüber Geflüchteten einer Politik der Abschottung und einem autoritären europäischen Grenzregime.

Erst in den letzten Jahren hat die Zahl arbeitsloser und arbeiterlicher Wähler*innen zugenommen, aber es sind nicht irgendwelche Wähler*innen. Vielmehr sind es auch hier die Wähler*innen mit rechten Einstellungen, die die AfD wählen (vgl. Martin Schröder 2018:AfD-Unterstützer sind nicht abgehängt, sondern sind ausländerfeindlich, online: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.595120.de/diw_sp0975.pdf).

Insofern ist es keine „Arbeiterbewegung von rechts“ (Klaus Dörre u.a. 2018: In: Berliner Journal fürSoziologie 1-2), denn die Arbeiterbewegung hat sich explizit als arbeiterlich, international-solidarisch, antifaschistisch und damit auch antivölkisch verstanden, während die autoritär eingestellten Arbeiter*innen eine völkische Vorstellung haben, d.h. sich auch nicht explizit nur als Arbeiter*innen sehen.

Die Frontstellung zu den „Kosmopoliten“ ist dabei aus völkischer Sicht eine alte, wie Richard Herzinger schon am 21.07.2001 im Tagesspiegel analysierte. Aus dem positiven Bild des humanen Kosmopoliten wurde „parallel zum Aufstieg des modernen Nationalismus im 19. Jahrhundert“ (ebd.) ein negatives Bild eines „potenzielle(n) Hochverräter(s)“ (ebd.) oder auch wie im Nationalsozialismus oder Stalinismus der Jude als Sündenbock.

Die Analyse des rechten Lagers zeigt, dass hier archaische, rechtsradikale Einstellungen immer noch hinter die Moderne zurückfallen. Die Modernisierung der Union in Fragen der Gleichstellung und Integrationspolitik hat dieses Lager zunehmend inkompatibel mit ihrer Politik gemacht, während sie sich zu Kohls Zeiten noch repräsentiert fühlten. Zwar kann es vor allem der Union gelingen, diese Fraktionen aus dem rechten Lager wieder zu binden. Allerdings wäre der Preis einer Rückbesinnung auf entschieden konservative, antimodernistische Haltungen hoch, weil damit ihre durch langfristige Lernprozesse erarbeitete Modernisierung und ihre Humanität z.B. in Fragen der Gleichberechtigung durch eine Restauration chauvinistischer und entschieden rechter Einstellungen in Frage gestellt werden würde.

Das rechte Potenzial darf zudem nicht unterschätzt werden. So haben sich laut der „Fragilen Mitte“-Studie rechtspopulistische Einstellungen bei etwa 21 Prozent der Befragten verfestigt und insgesamt 43 Prozent zeigen eine rechtspopulistische Tendenz (vgl. Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan 2019: Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, online: https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie/).

Das autoritäre Lager hat es im Bündnis mit für Rechtspopulismus anfälligen Strömungen und konservativen Teilfraktionen geschafft, die Deutungshoheit über die Migrationspolitik zu erlangen. So werten 52,9 Prozent der Befragten der „Fragilen-Mitte“-Studie (vgl. Zick u.a. 2019) asylsuchende Menschen ab. Aufgabe aller Demokrat*innen ist es, diese Bündnisse aufzubrechen und die etwas weniger anfälligen Fraktionen für eine gemeinsame integrativ-demokratische Politik zu gewinnen und das entschieden rechte, autoritäre Lager durch Aufklärung über die inhumanen, antidemokratischen Positionen zu delegitimieren.

Das linke solidarische Lager konnte mit dieser Politik bereits die eigenen Anhänger*innen mobilisieren. So hatte die SPD-Spitzenkandidatin und Ministerpräsidentin Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz bei der Landtagswahl 2017 damit Erfolg, nicht auf den restriktiven Flüchtlingskurs und Heimatdiskurs von Sigmar Gabriel einzuschwenken und sich durch eine linke Sozial- und Bildungspolitik entschieden von den Rechtspopulist*innen abzugrenzen.

Max Reinhardt und Stefan Stache sind Publizisten und Experten für soziale Milieus und gesellschaftspolitische Lager

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Reinhardt, Stefan Stache | Max Reinhardt

Promovierter Politikwissenschaftler und Autor: "Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei"

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