SPD-Führung: Ablösung des Schröder-Netzwerks?

Erneuerung der SPD? Die SPD-Öffnung mit Esken und Walter-Borjans an der Spitze ist noch nicht nachhaltig. Die Strömungen sind das Kräftefeld der SPD. Das Schröder-Netzwerk ist noch mächtig.

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Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans haben mit ihrer Wahl das Schröder-Netzwerk an der SPD-Spitze abgelöst. Sie sind die ersten SPD-Vorsitzenden seit Oskar Lafontaine (der den Vorsitz 1995-1999 innehatte), die weder direkt noch indirekt dem Netzwerk um den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder angehören.

Das Schröder-Netzwerk

Zum engsten Kreis des Schröder-Netzwerks zählen Frank-Walter Steinmeier und Brigitte Zypries, die beide bereits in Niedersachsen und später in der Bundesregierung eng mit Schröder in verschiedenen Funktionen zusammengearbeitet haben. Auch Thomas Oppermann und Sigmar Gabriel gehören zum Schröder-Netzwerk, auch wenn sie jeweils erst nach Schröders Rückzug aus Niedersachsen (1998) und aus der Bundesregierung (2005) in höhere Positionen aufgerückt sind, auf Bundesebene sogar erst einige Jahre später. Olaf Scholz ist zwar Hamburger, aber auch er ist zum Netzwerk des ehemaligen Bundeskanzlers zu zählen. Er hat als Generalsekretär der SPD maßgeblich und überloyal die Regierungspolitik Schröders verkündigt (vgl. dazu die jeweiligen Fallstudien zu den SPD-Politiker*innen in Reinhardt 2011a sowie der Vergleich der Einstellungen ebd., S. 548-554). Die Besonderheit des Schröder-Netzwerks ist, dass dessen Vertreter*innen

  • für eine SPD nach dem Vorbild der New Democrats mit Bill Clinton und von New Labour mit Tony Blair stehen;
  • sich von dem traditionellen, stärker umverteilenden Sozialstaat der 1970er Jahre verabschiedet haben und für einen aktivierenden Sozialstaat zur Überwindung von Arbeitslosigkeit eintreten;
  • ein individualisiertes Menschen- und Gesellschaftsbild von Aufsteiger*innen teilen und Chancengerechtigkeit statt einer solidarischen Umverteilung von Chancen präferieren;
  • die Wirtschaftskompetenz der SPD stärken wollen und eher moralisch an Unternehmen appellieren statt unternehmerisches Handeln aus ihrer Sicht zu überregulieren (zum Vergleich von ausgewählten Personen des Schröder-Netzwerks, wie Sigmar Gabriel, Thomas Oppermann, Olaf Scholz, Frank-Walter Steinmeier und Brigitte Zypries vgl. Reinhardt 2011a; zum intergenerationellen Wandel der Gerechtigkeitsvorstellungen von SPD-Politiker*innen der Nachkriegsgeneration und von Urenkel*innen Willy Brandts vgl. ebd. S. 548-554).

Das Schröder-Netzwerk ist zudem

  • für die Übernahme von Regierungsverantwortung in einer Kompromissdemokratie;
  • gegen oppositionelles Handeln einer Protestlinken und gegen grundsätzliche sozialistische Transformationen (vgl ebd.).

Das Schröder-Netzwerk ist anders als die konservativen, hierarchieorientierten Seeheimer und die karriereorientierten, individualistisch eingestellten Netzwerker (Netzwerk Berlin) – beide Strömungen sind besonders loyal gegenüber SPD-Regierungsvertreter*innen – oder das kritischere Forum Demokratische Linke 21 keine institutionalisierte Strömung (zur Institutionalisierung von Strömungen als „Faktion“ vgl. Köllner/Basedau 2006; zur Unterscheidung der SPD-Strömungen vgl. Reinhardt 2011, S. 86, 124 f.). Zum Schröder-Netzwerk zählen vor allem SPD-Politiker*innen, die Gerhard Schröder schon lange politisch begleiten und die nach seinem Rückzug aus der Politik 2005 die SPD-Politik maßgeblich mitbestimmen (zum Schröder-Netzwerk in einer komprimierten Darstellung vgl. Reinhardt 2011b). Gabriel und Oppermann sind zudem zugleich auch Mitglied des Netzwerks Berlin und der Seeheimer (vgl. zu den Seeheimern, Netzwerkern und dem Forum DL 21 Reinhardt 2011a, S. 82-176; vgl. auch Reinhardt 2011b).

Alle genannten SPD-Politiker*innen hatten und/oder haben zentrale Ämter in Staat und Partei inne:

  • Sigmar Gabriel war Vizekanzler und SPD-Vorsitzender;
  • Thomas Oppermann war Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und ist Vizepräsident des Bundestages;
  • Frank-Walter Steinmeier war Leiter des Bundeskanzleramtes, SPD-Kanzlerkandidat und Bundesaußenminister. Er ist Bundespräsident.
  • Brigitte Zypries war lange Jahre Bundesministerin.

Schröder selbst war von 1999 bis 2005 SPD-Vorsitzender und Sigmar Gabriel von 2009 bis 2017. Frank-Walter Steinmeier übte den Vorsitz 2008 kurzzeitig kommissarisch aus, ebenso wie Olaf Scholz 2018, der zudem 2002 bis 2004 SPD-Generalsekretär war. Vertreter*innen des Schröder-Netzwerks haben die SPD-Politik nicht nur in der Regierung, sondern auch in der Partei maßgeblich mitbestimmt. Den genannten SPD-Politiker*innen ist gemeinsam, dass sie in Schröder eine charismatische Autorität (zum Begriff vgl. Weber 1972, S. 755) sehen und ihm außerordentliche politische und rhetorische Fähigkeiten zusprechen.

Es sind vor allem SPD-Politiker*innen aus konservativen, ländlichen Arbeitnehmer*innen- und Kleinbürger*innenmilieus. Ihnen gemeinsam ist ihr Bildungsaufstieg in Folge der vor allem von der SPD erkämpften Öffnung des Bildungssystems und des Ausbaus des Sozialstaates. Sie haben sich von ihren Eltern mal mehr mal weniger, wie bei Scholz und Steinmeier, deutlich distanziert – vor allem wenn sie insbesondere väterlicherseits aus konservativen oder/und nationalsozialistischen Elternhäusern wie Gabriel (Vater: NSDAP-Mitglied, später Vertriebenenverband der Schlesier vgl. Reinhardt 2011a, S. 460; vgl. Monath 2013), Oppermann (Vater: NSDAP-Mitglied, später FDP- bzw. CDU-Wähler; danach sogar wegen Schröder und seinem Sohn Thomas Oppermann Wähler SPD vgl. Reinhardt 2011a, S. 418) und Zypries (Vater: eher CDU- oder FDP-Wähler vgl. Reinhardt 2011a, S. 440) stammten. Sie, aber auch Scholz und Steinmeier haben ihre Distanzierung von ihrer Familie politisch verarbeitet und sich in linken, teils auch linksradikalen, basisdemokratischen, sozialistischen Gruppierungen wie den Juso-Hochschulgruppen (Zypries) oder den noch deutlich linkeren Juso-Strömungen der Stamokaps (Scholz und Steinmeier) und Antirevisionisten (Oppermann) oder bei der marxistischen Strömung der Falken (Gabriel) engagiert. Für sie ist als Lerneffekt aus ihrer Biografie der Aufstieg durch Bildung politisch und persönlich am entscheidendsten für ihren Erfolg. Es handelt sich bei ihren Lebenswegen auch um kollektive Erfahrungen von Aufstiegsfraktionen aus den mittleren sozialen Milieus (vgl. Reinhardt 2011b oder Reinhardt 2011a).

Gemeinsam mit Schröder, dessen Bildungsaufstieg in Relation zu seinen Eltern „extremer“ ist als jener der anderen Protagonist*innen des Schröder-Netzwerkes, haben sie sich auch von ihrer sozialistischen Sozialisation distanziert und sich an der wirtschaftsliberalen Sozialstaats- und Wirtschaftspolitik von Gerhard Schröder orientiert bzw. sie sogar maßgeblich mitgestaltet. Zudem haben sie sich nach und nach auch wieder an ihren Herkunftsmilieus orientiert, allerdings in einer modernisierten Form vor allem im Vergleich zu ihren konservativen bzw. autoritären Herkunftsmilieus (vgl. Reinhardt 2011b oder Reinhardt 2011a).

Auch fast alle weiteren SPD-Vorsitzenden nach 1999 waren Schröder gegenüber sehr loyal, allen voran vor allem Franz Müntefering als SPD-Generalsekretär und Bundesminister. Er führte zudem die Privatisierungspolitik als Bundessozialminister konsequent fort und verteidigte die Agenda 2010-Politik sowie die Abgrenzung zur PDS bzw. Partei Die Linke auch als SPD-Vorsitzender (2004-2005; 2008-2009) vehement. Aber auch die SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck (2005-2006), Kurt Beck (2006-2008) und Martin Schulz (2017-2018) zählen zum rechten SPD-Flügel mit einer vergleichsweise großen Distanz zur Partei Die Linke und zu sozialistischen Strömungen in der SPD, auch wenn sowohl Platzeck als auch Beck den Begriff Demokratischer Sozialismus zur Integration des linken Flügels der SPD erhalten wollten, obwohl sie ihn selbst nicht befürworteten. Allen drei ist auch die Unterstützung der Agenda 2010 und der Rente mit 67 gemeinsam. Allerdings hat Kurt Beck Teile des Sozialstaatsabbaus als SPD-Vorsitzender zurücknehmen wollen und teilweise mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldes I auch durchsetzen können. Ebenso hat er die hessische SPD-Vorsitzende und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2008 Andrea Ypsilanti nach zunächst auch eigener entschiedener Kritik an einer Öffnung gegenüber der Partei Die Linke gewähren lassen, während allen voran der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement und Franz Müntefering einer Duldung einer rot-grünen Regierung durch die Partei Die Linke vehement widersprachen, obwohl sich zunächst sogar die SPD-Landtagsfraktion und die hessische SPD auf einem Landesparteitag dafür ausgesprochen hatten. Erst danach fanden sich vier Landtagsabgeordnete, die zur SPD-Rechten zählten und die die Beschlüsse durchkreuzten und als Vetospieler auftraten – mit Rückendeckung des damaligen SPD-Vorsitzenden Müntefering. Zuvor war Kurt Beck zurückgetreten, weil ihm das Recht genommen worden war, die Kanzlerkandidatur Frank-Walter Steinmeiers zu verkünden. Steinmeier wollte sich lieber selbst ausrufen, statt aus seiner Sicht Kandidat von „Becks Gnadenzu werden (vgl. zu diesen Konflikten in der SPD Reinhardt 2011a, S. 142-153; vgl. zu „Becks Gnaden“ Beste u.a. 2008, S. 19 und zu den vier hessischen Landtagsabgeordneten Zastrow 2009).

Auch Martin Schulz, Mitglied der Seeheimer, ist mit dem Schröder-Netzwerk eng verwoben. So war er immer ein Anhänger der Agenda 2010 und trat auch nur in geringem Maße für deren Teilrevisionen ein. Die Hoffnungen, die medial in den als basisnahe inszenierten, aus einfachen Verhältnissen stammenden, bodenständigen Sozialdemokraten aus dem kleinen Ort Würselen projiziert wurden, mussten zerplatzen, weil sie zu keinem Zeitpunkt einen wahren Bestand hatten. Schulz wollte den Kurs der SPD kaum verändern und arbeitete schon lange als hoher EU-Repräsentant. Ihm fehlte dadurch eine Bindung an die SPD und ihre Gliederungen. Auch seine soziale Herkunft war nicht durchgängig sozialdemokratisch. Vielmehr war die Familie mütterlicherseits katholisch und die Mutter, „streng katholisch“ (Schulte 2014), hat die CDU in ihrer Heimatstadt mitgegründet. Der Vater von Schulz war Polizeibeamter und nur der Großvater war ein sozialdemokratischer Bergarbeiter (vgl. ebd.) – eine Gruppe innerhalb der Arbeiterschaft, die trotz SPD-Mitgliedschaft eher konservativ eingestellt war und ist.

Nahles: zwischen Rückfall, Aufbruch und Abbruch

Andrea Nahles ist die einzige SPD-Linke unter den SPD-Vorsitzenden mit einer sozialen Herkunft aus einer katholischen facharbeiterlichen Familie (vgl. Reinhardt 2011a, S. 496-510). Zum Zeitpunkt ihrer Wahl zur SPD-Vorsitzenden 2017 hatte sie allerdings ihre kritischen Positionen teilweise revidiert und sich den rechten Strömungen und dem Schröder-Netzwerk angenähert. Sie hatte 2015 als Bundessozialministerin sogar gemeinsam mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel die Agenda 2010 mit den Hartz-Gesetzen als wichtigen Beitrag zum im Vergleich mit anderen Industrienationen erfolgreichen Bestehen der Finanzmarktkrise 2008 f. gelobt. Gleichzeitig wurden sozialintegrative Reformen wie die wieder eingeführte Verlängerung des Arbeitslosengeldes I und die gesetzliche Einführung eines allgemeinverbindlichen Mindestlohns als Revision der Hartz-Reformen gelobt (vgl. Gabriel/Nahles 2015). Insgesamt aber blieben die Reformen auf halber Strecke stehen, gerade mit Blick auf die Abschaffung von Sanktionen gegen ALG-II-Bezieher oder die Einführung von Steuern auf Vermögen und Finanztransaktionen.

Nahles war dann aber als Bundessozialministerin verantwortlich für eine sehr gelungene wissenschaftliche Aufarbeitung der Digitalisierung mit fortschrittlichen Vorschlägen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit vor allem für höherqualifizierte Arbeitnehmer*innen unter Beibehaltung sozialer Rechte (vgl. z.B. BMAS 2017). Als SPD-Vorsitzende war sie zudem maßgeblich beteiligt an einem besonderen Coup, nämlich der Verabschiedung eines sehr fortschrittlichen und Solidarität förderndes Sozialstaatspapiers des SPD-Parteivorstands. Darin wurden zentrale Aspekte eines Pfadwechsels hin zu einer solidarischeren Gesellschaft in Zeiten des digitalen Wandels aufgeführt, einschließlich einer Arbeitsversicherung mit dem Recht auf Weiterbildung, wie sie Nahles gemeinsam mit anderen Jungsozialist*innen bereits zu Juso-Zeiten gefordert hatte und bereits auf dem SPD-Bundesparteitag 2001 verabschiedet worden war – allerdings ohne dass sie je umgesetzt worden wäre (vgl. Reinhardt 2011a, S. 505-508). Folgende zentrale Reformen wurden im Februar 2019 im SPD-Parteivorstand (2019) beschlossen:

  • Perspektivische Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro
  • Stärkung des Tarifrechts und der Mitbestimmung
  • Aufnahme von Selbstständigen in die staatliche Altersvorsorge in Zeiten der Zunahme von Soloselbstständigen in der Plattformökonomie
  • „Ausbau der Brückenteilzeit
  • Einführung der Familienarbeitszeit mit Familiengeld
  • Einführung eines persönlichen Zeitkontos
  • Recht auf mobiles Arbeiten und Schutz vor Entgrenzung“ (SPD-Parteivorstand 2019)
  • Einführung eines Rechts auf Weiterbildung
  • „Finanzierung des dritten Umschuljahres“ (ebd.)
  • „Arbeitslosengeld bei Qualifizierung verlängern
  • Arbeitslosengeld orientiert an Lebensleistung länger zahlen“ (ebd.)
  • Revision der Hartz-Gesetze u.a. durch die Stärkung der Kinderrechte und die Abschaffung unsinniger Sanktionen sowie „2 Jahre Schutzzeit für die Heranziehung von Vermögen und die Überprüfung der Wohnungsgröße“ (ebd.).

Nahles hatte damit ein Sozialstaatspapier mit einem sehr modernen und solidarischen Gesellschaftsbild vorgelegt, das die Hartz-Reformen in weiten Teilen überwinden würde.

Die Integration der SPD-Strömungen misslang allerdings auf anderen Politikfeldern. Teile der rechten und der linken Strömungen (vor allem das Forum DL 21) fühlten sich zunehmend ausgegrenzt. Durch die innerparteilichen Auseinandersetzungen hatte das Misstrauen zwischen den Strömungen wieder zugenommen. Nahles sah sich dadurch wiederum zunehmend gezwungen, Absprachen nur noch im engsten Vertrautenkreis vorzubereiten und scheiterte letztlich am Vertrauensverlust in der SPD und bei den Wähler*innen und trat als Vorsitzende der SPD und der Bundestagsfraktion Anfang Juni 2019 zurück.

Partielle Öffnung der SPD

Nahles hatte sich ihren innerparteilichen Einfluss allerdings zunächst durchaus auch über SPD-Rechte wie Olaf Scholz gesichert. Beide sind sich freundschaftlich verbunden. Sicherlich auch deshalb hatte Scholz zunächst eine Kandidatur für den SPD-Vorsitz abgelehnt. Der Wahlkampf der Kandidat*innen für den SPD-Vorsitz hat die SPD weiter geöffnet, auch und gerade durch die Kandidatur verschiedener SPD-Linker im ersten Wahlgang durch die Mitglieder. Für die gelungene Öffnung der SPD sind die Interimsvorsitzenden Malu Dreyer, Thorsten Schäfer-Gümbel und Manuela Schwesig verantwortlich, die flügelübergreifend außerordentlich integrativ und solidarisch agiert haben. Die Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans fiel im zweiten Wahlgang durch die Mitglieder im November 2019 mit 53 Prozent der Stimmen letztlich vergleichsweise knapp aus. Immerhin 45 Prozent haben Olaf Scholz und Klara Geywitz gewählt.

Noch aber sind die Trägheits- oder Beharrungskräfte in der SPD massiv und das Schröder-Netzwerk ist weiterhin in maßgeblichen Positionen tätig, so z.B. mit Olaf Scholz als Bundesfinanzminister oder Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsidenten, der maßgeblich die Wiederauflage der Großen Koalition vorangetrieben hat, nachdem die FDP sich einer Regierungsverantwortung mit Union und Grünen nach der Bundestagswahl 2017 verweigert hatte. Und die SPD ging die Koalition mit der Union erneut ein, obwohl sie sie zunächst nach der klaren Wahlniederlage mit knapp 20 Prozent ausgeschlossen hatte.

Auch der Bundesparteitag im Dezember 2019 kann hierüber trotz einer partiellen Öffnung der SPD und ihrer Führung nicht hinwegtäuschen. Die Beschlüsse knüpfen zum Teil an das im Februar 2019 verabschiedete Sozialstaatspapier an, so zum Beispiel bei der perspektivischen Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, bei der Abschaffung von Hartz IV mit der Ergänzung der Beschränkung von Sanktionen auf 30 Prozent und dem Ausbau von Kinderrechten bei der Kindergrundsicherung und der gesetzlichen Verankerung von mobiler Arbeit und Home Office. Zudem wurden Reformen für die Pflege (Bürgerversicherung für alle), Rente (Erwerbstätigenversicherung für alle), Investitionen mit einer perspektivischen Überwindung der Schuldenbremsen und einen höheren Klimapreis als bisher in der Großen Koalition sowie die Wiedereinführung der Vermögenssteuer vereinbart (vgl. SpiegelOnline 2019). Auch personalpolitisch zeigt sich mit der Wahl des Juso-Bundesvorsitzenden und SPD-Linken Kevin Kühnert, einem engen Unterstützer von Esken/Walter-Borjans, zum stellvertretenden SPD-Vorsitzenden eine Öffnung der SPD. Nur noch Hubertus Heil zählt unter den insgesamt fünf stellvertretenden SPD-Vorsitzenden zum Schröder-Netzwerk. Und mit Klara Geywitz wurde eine weitere Politikerin zur stellvertretenden SPD-Vorsitzenden gewählt, die zur SPD-Rechten zu zählen ist. Die Wahlergebnisse waren die Folge eines personalpolitisch integrativen Kurses.

Esken und Walter-Borjans: Nachhaltigkeit ihres integrativen Kurses?

Saskia Esken, Bundestagsabgeordnete und Mitglied der Parlamentarischen SPD-Linken, und der ehemalige NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans machten und machen einen bodenständigen Eindruck; auch ihre Biografien geben Hinweise darauf, dass beide bodenständig geblieben sind. Esken hat mehrere Jahre Aushilfsjobs ausgeübt und Walter-Borjans stammt aus einer Handwerker-Familie (vgl. focus.de 2019).

Der Verzicht auf einen sofortigen Ausstieg aus der Großen Koalition unterstreicht zusätzlich, dass beide flügelübergreifend integrieren wollen. Programmatisch haben sie die unterschiedlichen Strömungen mitgenommen, gerade auch die linken. Mit der Entscheidung gegen einen sofortigen Ausstieg aus der GroKo haben sie zudem auch den überaus regierungsloyalen Flügel der SPD, einschließlich des Schröder-Netzwerks, der Seeheimer und Netzwerker miteingebunden. Esken und Walter-Borjans sind keineswegs die SPD-Rebellen, zu denen sie von Teilen der Medien gemacht werden. Vielmehr sind sie bisher sehr behutsam und integrativ vorgegangen und sind eher linke SPD-Zentristen, auch wenn sie mit ihrer Kritik an der Agenda 2010 sicher bei SPD-Rechten auf Widerstand gestoßen sind. Walter-Borjans verweist allerdings sogar auf den eher konservativen Sozialdemokraten Johannes Rau als Versöhner und ist insofern auch zur SPD-Rechten offen. Ob die partielle Öffnung der SPD Bestand haben wird, wird sich zeigen und hängt auch ganz maßgeblich davon ab, wie das Schröder-Netzwerk agiert bzw. wieviel Spielraum Esken und Walter-Borjans für die flügelübergreifende Integration erhalten. Hilfreich für die bisherige partielle Öffnung könnte auch gewesen sein, dass beide einen besonders großen Rückhalt vom Landesvorstand der NRW-SPD durch die Nominierung für die Kandidatur zum SPD-Vorsitz und vom Bundesvorstand der Jungsozialisten durch ihre öffentliche Unterstützung hatten und haben. Anders als z.B. durch die Basismobilisierung neuer Mitglieder durch die Aktivität u.a. von Momentum für Jeremy Corbyn 2015 in der Labour Party fehlt der SPD derzeit ein grundlegender struktureller Wandel ihrer Mitgliedschaft. Daher erfordert ein Neuanfang und eine nachhaltige Öffnung der SPD eine integrative, nachhaltige Arbeit nicht nur der neuen SPD-Spitze in besonders sensibler Art und Weise.

Literaturverzeichnis

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focus.de 30.11.2019: Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. „Robin Hood der Steuerzahler“, Kämpferin gegen Rechts: Das sind die neuen SPD-Chefs, online: https://www.focus.de/politik/deutschland/walter-borjans-und-saskia-esken-robin-hood-der-steuerzahler-kaempferin-gegen-rechts-das-sind-die-neuen-spd-chefs_id_11409764.html (15.12.2019).

Gabriel, Sigmar/Nahles, Andrea 2015: Gabriel und Nahles zur Agenda 2010. Die Fragen von morgen, In: SZ 15.01.2019, online: https://www.sueddeutsche.de/politik/gabriel-und-nahles-zur-agenda-2010-die-fragen-von-morgen-1.2290494 (15.12.2019).

Köllner, Patrick/Basedau, Matthias 2006: Faktionalismus in politischen Parteien. Eine Einführung, In: dies./Gero Erdmann (Hg.): Innerparteiliche Machtgruppen. Faktionalismus im internationalen Vergleich, Frankfurt a.M., S. 7-37.

Monath, Hans 2013: Sigmar Gabriels Familiengeschichte. Mein Vater, der Nazi, In: Der Tagesspiegel 11.01.2013, online: https://www.tagesspiegel.de/meinung/sigmar-gabriels-familiengeschichte-mein-vater-der-nazi/7617046.html (15.12.2019).

Reinhardt, Max 2011a: Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei, Baden-Baden.

Reinhardt, Max 2011b: Lebenswege und politisches Feld. Eine Analyse der Machtstruktur der SPD, In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 12(2), Art. 19, online http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1102197 (15.12.2019).

Schulte, Ulrich 2014: Porträt Spitzenkandidat Schulz. Der Lautsprecher, taz.de 14.05.2014, online: https://taz.de/Portraet-SPD-Spitzenkandidat-Schulz/!5042295/ (15.12.2019).

SpiegelOnline 08.12.2019: Vermögenssteuer, Hartz IV, Homeoffice. Was sie SPD auf ihrem Parteitag beschlossen hat, online: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-will-hartz-iv-abmildern-a-1300212.html (15.12.2019).

Weber, Max 1972 [1922]: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen.

Zastrow, Volker 2009: Die Vier. Eine Intrige, Berlin.

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Geschrieben von

Max Reinhardt

Promovierter Politikwissenschaftler und Autor: "Aufstieg und Krise der SPD. Flügel und Repräsentanten einer pluralistischen Volkspartei"

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