Mit Kapitalismus den Kapitalismus reformieren

Mitbestimmung Wer entscheidet, wie wir als Gesellschaft leben wollen? Ein Kreuz alle vier Jahre reicht für politische Partizipation längst nicht mehr aus. Ein Vorschlag

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Mit dem strategischen Ankauf von Aktien könnten wir etwas verändern
Mit dem strategischen Ankauf von Aktien könnten wir etwas verändern

Foto: Spencer Platt/Getty Images

Seit den Anfängen der als „Aufklärung“ benannten Zeitspanne sind nun mehr als drei Jahrhunderte vergangen, aber man hat immer noch das Gefühl, dass die wirklich gut gemeinte Empfehlung zum Selber-denken selbst in unserer nordatlantischen Zivilisation nur sehr selten beherzigt wird. Woran sich das erkennen lässt? Daran zum Beispiel, dass „Rationalität“ etwas zu sein scheint, was lediglich in wirtschaftlichen Kontexten von Bedeutung ist, und das nur jemand haben kann, der auf „Nutzenmaximierung“ aus ist. Daran, dass viele von uns glauben, dass es den Höhepunkt menschlicher Geschichte darstellt, wenn wir diese unsere ökonomische Rationalität nur weit genug in alle Winkel der Welt transportiert haben werden. Daran, dass sich nach einer weit verbreiteten Vorstellung „Leistung“ zwar lohnen soll, aber diejenigen, die einen bedeutenden Teil zum Gemeinwohl beisteuern (wie etwa ErzieherInnen sowie Kranken- und AltenpflegerInnen), für ihre Arbeitsbedingungen viel zu schlecht entlohnt werden. Nur ein Narr erkennt nicht: Die den Globus umspannende freie Marktwirtschaft produziert eine massive Verteilungsungleichheit materieller Güter und politischer Macht, die sich nicht durch die fehlende Leistungsbereitschaft all derer erklären lässt, die vom einen oder anderen zu wenig haben – und das scheint seltsamerweise auch für die sogenannte „Soziale“ Marktwirtschaft in unserem Land zu gelten.

Wie rettet man nun also das Vermächtnis unserer geistesgeschichtlichen Vergangenheit, diese beiden großen Ideale namens Humanismus und Liberalismus, in einer Zeit, die sich um das Leiden und die Freiheit von Menschen in anderen Wohnungen und Kontinenten immer weniger schert? Seine Hoffnung alleine auf das Coronavirus zu setzen, dürfte naiv sein; die Post-Corona-Gesellschaft wird sich sehr wahrscheinlich wenig von dem unterscheiden, was wir in den letzten Jahrzehnten bereits an gesellschaftlichem Leben praktiziert haben. Wir werden weiterhin viel Fleisch essen und so dafür sorgen, dass die weltweiten Agrarflächen mehrheitlich für die Produktion von Tiernahrung verwendet werden anstatt für menschliche Ernährung; wir werden weiterhin ManagerInnen und Profifußballspielern ihre Millionengehälter gönnen und die angespannte Arbeitssituation von ErzieherInnen und PflegerInnen nicht verbessern; wir werden weiterhin davon ausgehen, dass nur diejenigen ein Existenzrecht besitzen, die auch bereit sind, etwas dafür zu leisten; wir werden weiterhin Leute mit fremd klingenden Namen danach fragen, woher sie denn eigentlich ursprünglich kommen, obwohl sie wahrscheinlich in Deutschland geboren sind; und wir werden unseren Kindern in den Schulen weiterhin predigen – und zwar auch den Unbelehrbaren, die freitags auf die Straße gehen – dass eine Welt, in der die allermeisten Menschen fünfmal in der Woche von morgens bis abends einer Erwerbstätigkeit nachzugehen gezwungen sind, die edelste aller möglichen Welten ist.

Gibt es also keinen Weg, diesem Schlamassel zu entkommen, in den uns Marktfanatismus und Konsumismus gebracht haben? Doch, den gibt es. Eigenartigerweise führt uns dieser Weg zu etwas, was man gewissermaßen als das Kernstück des kapitalistischen Wirtschaftens bezeichnen könnte: Der Aktie. Reflektiert man über die Aktie vorurteilsfrei – und als Nutznießer der europäischen Aufklärung sollten wir das tun – dann dürfte auffallen, dass sie genau das verkörpert, was gegenwärtig so ungleich verteilt ist, nämlich ein materielles Gut (in Form der Mitinhaberschaft an einem Unternehmen) und politische Einflussnahme (in Form der Mitbestimmungsrechte, die mit ersterem einhergehen). Wer Aktien eines Unternehmens besitzt, hat etwas zu sagen, und kann mindestens einmal im Jahr auf der sogenannten Hauptversammlung von seinem Recht Gebrauch machen, Auskünfte vom Vorstand zu verschiedenen Themen einzufordern oder ihm die Entlastung vorzuenthalten. Wer sehr viele Aktien einer AG besitzt und zum Mehrheitseigner wird, kann aber auch Forderungen an die Geschäftsführung und den Aufsichtsrat stellen, und niemand hindert ihn daran, dass diese Forderungen beispielsweise die folgenden Formen annehmen: „Bezahlt Frauen und Männer gleich!“ – „Kürzt die Gehälter des Vorstandes!“ – „Unterbindet Rüstungstransporte in Kriegsgebiete!“ – „Beendet die Zusammenarbeit mit Unternehmen, die Menschenrechte und Umweltschutz missachten!“ – „Setzt euch für die Allgemeinverbindlicherklärung eures Tarifvertrags ein!“

Wer nun kein nennenswertes Vermögen hat, wird schwerlich die alleinige Anteilsmehrheit an einem Konzern wie etwa Bayer oder RWE erlangen. Aber das muss man auch nicht – denn man kann sich mit anderen Anteilseignern zusammentun, um seinen Stimmrechten ein größeres Gewicht zu verleihen. Dafür gibt es Aktionärsvereinigungen wie den Dachverband der Kritischen AktionärInnen, dem man seine Stimmrechte übertragen kann und der sich für einen sozial-ökologischen Wandel innerhalb der Unternehmen einsetzt. Für die einzelne AktionärIn reduziert das den Kapitaleinsatz für eine wirkungsvolle Einflussnahme deutlich, und zwar insbesondere dann, wenn sich Millionen von Menschen daran beteiligen.

Ein Rechenbeispiel: Würde jemand den gesamten Bayer-Konzern kaufen wollen, so müsste er aktuell dafür rund 40 Milliarden Euro ausgeben (das entspricht der sogenannten „Marktkapitalisierung“ aller Aktien von Bayer an der Börse). Da viele wichtige Abstimmungen der Hauptversammlung (etwa über eine Fusion) eine Stimmenmehrheit von mindestens 75 Prozent vorsehen, reichen schon 25 Prozent aller Anteile aus, um den Ausgang wichtiger Entscheidungen vollständig kontrollieren zu können. Man spricht deshalb auch von einer „Sperrminorität“ – bei Bayer wären das aktuell Anteile im Wert von 10 Milliarden Euro. Einige Direktbanken bieten nun Aktiensparpläne auf Bayer an, und zwar schon ab 25 Euro im Monat. Stellen wir uns vor, alle Vorsorgesparenden, die aktuell monatlich in einen Riestervertrag einzahlen (das sind mindestens 10 Millionen Personen), erwerben nun stattdessen monatlich für die besagten 25 Euro Anteile von Bayer: Dann hätten diese Leute bereits nach dreieinhalb Jahren kollektiven Sparens die Sperrminorität innerhalb der Hauptversammlung erreicht, womit sich ohne Weiteres die berüchtigte Fusion von Bayer mit Monsanto hätte verhindern lassen können. Beim Braunkohleförderer RWE würde dieselbe Menge an Personen die Sperrminorität übrigens schon nach 20 Monaten erreichen – was sich damit wohl alles bewirken lassen könnte?

Die kapitalistische Gegenwart, die maßgeblich von denen bestimmt wird, die bisher die meisten Stimmrechte in den Aktiengesellschaften und den Parlamenten gekauft haben, ist also – entgegen aller Beschwörungen seitens der Politik – nicht alternativlos. Wenn Aktien als Verkörperung materiellen Wohlstands und politischer Macht gleichmäßiger über die Weltbevölkerung verteilt wären, dann wäre ein Grundübel der Marktwirtschaft vom Globus getilgt. Die entscheidende Frage lautet dann aber: Wenn jeder kraft seines Miteigentums an den weltweiten Produktivmitteln zum Kapitalisten würde – ist das dann noch Kapitalismus oder schon eine der Alternativen zu ihm? Die Antwort ist ungewiss. Besser als die Gegenwart scheint mir diese mögliche Zukunft aber allemal zu sein – mehr als 25 Euro im Monat braucht es dafür nicht. Worauf warten wir also noch?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maximilian Runge

Studierter Germanist und Philosoph, dem Gemeinwohl verpflichtet. Selbständiger Finanzberater. Beschäftigt sich mit Geldtheorie und deren Kritik.

Maximilian Runge

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