67 Prozent sind 67 Prozent

Medien Während der Spiegel den Bericht zur Aufklärung der Causa Relotius vorlegt, werden weitere Fälschungen im Magazin bekannt.

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In seiner Osterausgabe hat DER SPIEGEL eine Untersuchung veröffentlicht, wonach 63 Prozent der Menschen in Westdeutschland an Gott glauben. An Wunder glauben demnach 67 Prozent (in Ostdeutschland 62 Prozent). Weil dieses Ergebnis der Studie eine Umfrage des Kantar Instituts aber offensichtlich nicht in die weltanschaulichen Prämissen des Magazins passte, der Beitrag wohl aber bereits fest als Titelgeschichte eingeplant war, wurde ein Reporter nach Kanada geschickt, um die Umfrageergebnisse zu überprüfen.

Der sympathisch auftretende Reporter Dietmar Pieper (blauer Pullover, weißes Hemd) sollte vor Ort herausfinden, ob das Ergebnis stimmen kann und dafür eine Pastorin befragen. Dazu wurde er mit einem blauen Pullover und einem weißen Hemd nach Toronto geschickt und ein Beweisfoto von ihm im Gespräch mit der Pastorin gemacht, so dass belegt werden kann, dass er wirklich Kanada betreten hat. (Dieses Foto ist auch tatsächlich im Editorial des SPIEGEL abgedruckt. Herr Pieper trägt auf dem Foto auch wirklich den blauen Pullover und ein weißes Hemd.)

Die kanadische Pastorin bestätigt dann im Gespräch rundheraus, dass sie eine Glaubenskrise hinter sich habe. Seitdem sie offen darüber berichtet, sei der Gottesdienstbesuch stark zurückgegangen und viele Leute gingen jetzt woanders in den Gottesdienst. Sie wolle aber weitermachen.

Gleich am ersten Tag in Toronto dachte Dietmar Pieper morgens beim Aufwachen im Hotelzimmer daran, wie er früher als Jugendlicher in Deutschland in den Gottesdienst gegangen ist.

Erneute Fehler in der SPIEGEL-Dokumentation

Zurück in Deutschland wurde beschlossen, dass die Geschichte den Titel „Der Himmel ist leer“ tragen soll. Zur Illustration sollten auch weitere Ergebnisse der Studie abgedruckt werden, z. B. dass in Deutschland bei den Gläubigen 75 Prozent (bei den Katholiken) bzw. 67 Prozent (bei den Protestanten) rundheraus angeben „an Gott zu glauben.“ Im Beitragstext selbst wird dann von „Zweidrittelmehrheit“ gesprochen allerdings im Bezug auf andere Kontexte. Dass zudem die „Gesamtquote“ im Westen durch die Ergebnisse im Osten Deutschlands, der bekanntlich die Zeit zweier atheistischer Diktaturen (annähernd 3 Generationen lang) hinter sich hat, insgesamt „nach unten“ gezogen wird, bleibt unreflektiert, was wiederum nicht erstaunt, da DER SPIEGEL den Osten vermutlich ja ohnehin noch nie ernstgenommen hat.

Dass weltweit „Religiosität“ zunimmt, wird im Artikel immerhin erwähnt. (Ob das nur außerhalb Torontos der Fall ist, aber nicht weiters untersucht.)

Generell zeigt die Spiegel-Geschichte überdeutlich ideologisch und weltanschaulich geprägte Tendenzen. Etwa auch eine ratio-Fixierung, die beinahe schon wieder irrationale Züge hat. Stimmt es denn, dass irgendjemand sein Leben ausschließlich nach Gesichtspunkten der „ratio“ führt? Sagen Sie doch einmal Ihrer Partnerin auf die Frage, warum sie zusammen sind: „Nun ja, das hat rationale Gründe!“ Da wäre ich gespannt…

Leider hat hier erneut die „Dokumentation“ des SPIEGEL einen schweren Interpretationsfehler wieder nicht erkannt. Statt einen Reporter ins ferne Kanada zu fliegen, hätte ein Reporter in das auf dem Schreibtisch liegende Zahlenmaterial geschickt werden sollen. Aber man wusste wieder einmal schon vorher, was der Plot des Beitrags werden soll. Dieses Wunschergebnis zu deutschen Umfrageergebnissen wurde dann auch wie bestellt aus dem kanadischen Toronto zurückgebracht.

Zahlen, die seit Jahrzehnten bewusst verdreht oder beschwiegen werden

Die Osterausgabe des SPIEGEL zeigt aber noch mehr. Im Bericht wird auf Umfrageergebnisse von 2005 hingewiesen, wo die Angabe „glaube an Gott“ jeweils nocheinmal um ca. 10-12 Prozent höher lag (also 67, 77, 87 Prozent). Was aber heißt das anderes, als dass seit zehn, zwanzig, dreißig Jahren der Spiegel und viele andere Medien konsequent gegen die eigene bzw. die potenzielle Mehrheit der Leserschaft angeschrieben haben und anschreiben? Ist das ja bestimmt keine Leserbeschimpfung, besserwisserische Hochnäsigkeit, chronische Publikumsverachtung… (Auch mit Pressekodex Ziffer 10 hat das natürlich rein gar nichts zu tun. Wer glaubt denn sowas?)

Während das Spiegelmaterial auch für 2019 an Zahlen hergibt: In West- wie in Gesamtdeutschland ist eine absolute Mehrheit (und weit darüber) in dieser Frage eindeutig, wird so getan als ob das eine unbedeutende Minderheit wäre. Und weil die einzelnen Werte nicht 100 Prozent, sondern 60 oder 70 Prozent betragen, deshalb hätten Kirchen und Glaubensgemeinschaften ein Problem.

Wenn andererseits bei Wahlen 60 oder 70 Prozent vom (Minimal-)Vollzug ihres demokratischen Wahlrechts alle vier oder fünf Jahre Gebrauch machen, spricht man ja durchaus von einem außerordentlich hohen Wert…

Kurz: Es steckte schon eine Menge weltanschaulicher Hinbiegerei in der effekthascherischen Osterausgabe des Spiegel.

Soetwas kann sich wahrscheinlich nur eine Redaktion trauen, die ihren Sitz im protestantisch geprägten Hamburg hat, und deshalb auf gnädige Leser hoffen darf.

Fazit: Die nicht ganz ernst zu nehmende Artikelaufbereitung der Osterausgabe des Spiegel zeigt, dass sich das Magazin derzeit wohl weniger als Nachrichten-, sondern immer mehr als Testmagazin versteht. Man testet aus, wie weit man gehen kann beim Verdrehen von Tatsachen.

Aus dem Umfrageergebnis, dass die deutliche Mehrheit in Deutschland „an Gott glaubt“ wird kurzerhand (und mit einigem Aufwand man bedenke allein die Flugzeit nach Toronto) einfach das genaue Gegenteil gemacht. Es wird Wesentliches weggelassen, zum Tenor des Berichts gegenläufige Stimmen (der Mehrheit!) werden nicht wiedergegeben. Qualitätsjournalismus, der aus Fehlern lernt, sieht anders aus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

m.schuetz

Hobby-Intellektueller, angehender Humorist, (jetzt auch Spaßblogger, Aktivist und Bürgerrechtler), twittert hier nicht

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