Der Kanon als Hilfe

Back-to-the-roots Bei der Frage nach Menschlichkeit kann der urchristliche Kanon ein Beispiel und eine Hilfestellung bieten.

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Was ist wahre Humanität? Immer wieder geraten wir in Situationen, wo sich diese Frage stellt. Was ist menschlich? Worin wirkt sich das aus?

a) Für das frühe Israel war der Mensch als „Ebenbild Gottes“ gedacht (Genesis 1,27). Das ist eine hohe Auszeichnung! (Auch ein gewisser Anspruch liegt darin.) Und auf jeden Fall eine hohe Würde.

Die Christenheit ist dieser Auffassung im Wesentlichen ohne Abstriche gefolgt. Wie ja generell das Christentum seine Rede von der Schöpfung und vom Menschen weitgehend vom frühen Judentum übernommen hat.

Die jüdisch-christliche Tradition und Überlieferung hat also gerade an diesem heute viel diskutierten Punkte viel gemeinsam.¹

Nun kenne ich wenige Menschen, die in ihrem Alltag, sagen wir beim Brötchen holen oder an der Ampel, wahrscheinlich darüber reflektieren: „Oh, ich bin ein Ebenbild.“ Auch nicht beim Föhnen. (Dass die vielleicht abstrakt wirkende Bestimmung trotzdem ihre Wirkung und Bedeutung hatte, merken wir an der Rechtsgeschichte.)

b) Statt den Ausgangspunkt beim Einzelnen zu nehmen, könnte man auch an das Soziale, die Mitmenschlichkeit denken. Auch dafür gibt es eine reiche Basis in Israel. Denken wir nur an die Sozialkritik der Propheten, die sich in den frühen Schriften findet.

c) Doch noch eine dritte Ebene kommt dazu, die vielleicht die wichtigste ist. Zum wahren Menschsein kommt ein Individuum, wie ein Kollektiv, recht eigentlich erst dann, wenn Menschen zu einem inneren Frieden mit sich selbst mit anderen gefunden haben.

Der Kanon als Entscheidungshilfe

Was ist human? „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Ein Satz wie dieser, mit Autorität gesprochen, weist die Richtung. Menschlich wäre, was echten Frieden stiftet. Auch das klingt an.

Nun gab es auch im Urchristentum Uneinigkeiten, Abweichler. (Der Weg des Markion etwa, der alles Israelitische aus der christlichen Tradition entfernen wollte. Ein Weg, der vom breiten Traditionsstrom abgelehnt wurde). So kann die Entwicklung des Urchristentums als ein Beispiel dienen, wie, jedenfalls in dieser Tradition, Streitfälle geschlichtet und entschieden wurden.

Es ging damals gewissermaßen um eine „Unterscheidung der Geister“. Es schwirrten allerhand Schriften und Positionen herum. Wer oder was kann beanspruchen, das (Ur)christliche zu repräsentieren? Was trägt von außen Nicht-zu-diesem-Geist-Passendes herein? Eine Formel des urchristlichen Traditionsprinzips besagte: „dass ich (stets) (nur) weitergebe, was ich auch empfangen habe.“ (vgl. lat. tradere: weitergeben, überliefern.) Neuerungen waren abzulehnen. Um zu erkennen, wer als rechtmäßiger Vorsteher einer Gemeinde gelten könnte, war dies eine ausschlaggebende Entscheidungshilfe!

An diese Zeit und an diese Formel wollte später dann auch Martin Luther anknüpfen (re-formatio).

Seine Absicht war ja gewiss nicht als „Angriff auf das Christliche“ gedacht. All sein Re-Formieren sollte (nur) der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands dienen. Oft findet sich bei ihm der Hinweis, dass, anders als im Westen, in vielen Bereichen die Ostkirchen näher am Ursprung drangeblieben waren...

(Auch die häufige Bezugnahme und Berufung Luthers auf das Gewissen, wie in Worms 1521, liegt auf dieser Linie des christlich-jüdischen Menschenbilds, und hatte geistesgeschichtlich nicht geringe Wirkungen. Wenn heute Parlamentsabgeordnete „einzig ihrem Gewissen“ verpflichtet sind, hängt das auch damit zusammen.)

Back to the roots

Was ist echte Humanität? Eine besondere Anziehungskraft des Urchristentums bestand im besonderen Umgang der Menschen miteinander. Reiche und Arme, kamen in den ersten Gemeinden über alle sonstigen Unterschiede zusammen. Es gab engagierte gegenseitige Fürsorge. Bis dahin, dass man für ein würdiges Begräbnis Sorge trug. In allem stand das Maßnehmen am Stifter im Mittelpunkt. Aus diesem Wurzelgrund wird bis heute in der Christenheit viel maßgebliche „Entscheidungshilfe“ erwartet.

Interessanterweise hat sich der frühchristliche Kanon weitgehend gewissermaßen „von selbst durchgesetzt“. Denn man übernahm einfach hauptsächlich die Schriften, die schlicht in den Gemeinden im lebendigen Gebrauch waren (in Anwendung, Lesung, Auslegung). – Schon damals dienten die Schriften des alten und neuen Testaments als beständige Quelle der Spiritualität. – Im 2./4. Jahrhundert stand der biblische Kanon im wesentlichen fest (Kanon heißt: Regel, Maßstab, Entscheidungshilfe). Liest man die Texte heute, wird man meist das zustimmende Urteil finden, dass die Kanonsentscheidung damals im Großen und Ganzen richtig und in sich kohärent getroffen wurde. Bei einigen Schriften schwankte man (z.B. 2Petr, Hebr, Jak, Apk): Es gab so etwas wie eine innere Mitte, an der man auch inhaltlich ausweisen konnte, was zum Kanon zähle, was den entsprechenden Geist atme, und was nicht.

1 Zur Entwicklung unseres heutigen Begriffs von Menschenwürde hat diese gemeinsame Tradition nicht wenig beigetragen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

m.schuetz

Hobby-Intellektueller, angehender Humorist, (jetzt auch Spaßblogger, Aktivist und Bürgerrechtler), twittert hier nicht

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