Bevor Zeitungsenten flügge werden und sich verselbständigen, gilt es zu widersprechen. Zur journalistischen Berichterstattung rund um den Reformationstag 2017 ist Widerspruch daher unerlässlich. Merkwürdige Meldungen gehen um. „Das Reformationsjahr ist auserzählt.“ „Neue Aspekte sind nicht zu erwarten.“
Hier quakt sie schon die Ente. Merkwürdig an solchen Meldungen ist ja bereits, dass sie ein Ereignis bilanzieren, dass noch gar nicht stattgefunden hat. Wahre Propheten müssen da am Werk sein, wenn sie vorab wissen, was der Reformationstag 2017 erbringen kann. So lässt sich leicht erkennen, dass es sich um eine ideologisch vorgefasste Ansicht handelt, nicht um einen Tatsachenbericht.
Doch wer erwartet noch Tatsachenberichte in der Zeitung? Von einer großen Vertrauenskrise spricht die Otto-Brenner-Stiftung in einer neuen Studie zum Medienmisstrauen (OSB-Arbeitspapier 27). Und zitiert das Medienmagazin Zapp: „Das Gefühl, den Medien nicht (mehr) vertrauen zu können, ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“ Das Reformationsjahr 2017 liefert dafür einen weiteren Grund und den Beweis.
Studie zu Medienmisstrauen
Für die Studie wurden im Jahr 2016 über 2.400 Probanden befragt. Quakenderweise liefert die mediale Bewertung der Studienergebnisse selbst das beste Beispiel für die bekannt eigenwilligen Presse-Interpretationen. So sind laut Studie kaum mehr als 50 % der Befragten unumwunden zu der Aussage bereit, dass sie klassische Tageszeitungen oder den Öffentlich-Rechtlichen (!) Rundfunk für glaubwürdig halten. Was meldet die ARD-Tagesschau darüber am 6. Oktober 2017: „Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung hat festgestellt, dass viele Bürger den öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Qualitätsmedien vertrauen.“ Und weiter: „Das Vertrauen in Medien bleibt in Deutschland insgesamt hoch.“ Das ist nun das genaue Gegenteil. (Mediale Selbsthypnose - übrigens in einem Beitrag aus der eigens eingerichteten Abteilung „Faktenfinder“ der ARD, man könnte lachen).
Soviel vorab zur Wirklichkeitswahrnehmung und Bewertung von Statistiken in den Medien. Es dürfte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis das verbreitete Misstrauen durch seriöse Medienarbeit wieder überwunden ist. Die Ansicht, dass es lange dauert, teilt auch Stefan Raue, der neue Intendant des Deutschlandradio.
„Luther hat gezogen“
Dieser längere Vorspann war sinnvoll, weil er ein Licht auf den Umgang mit Zahlen und Fakten auch rund um das Reformationsjubiläum wirft. Schon recht früh waren Pressestimmen zu hören, die als eine heimliche Kampagne gegen eine vermeintliche „Luther-Überhöhung“, oder genauer: gegen eine Luther-Feier generell, gedeutet werden konnten. Soll der Reformator demontiert werden? fragte daraufhin ein christliches Medienblatt. Das lässt sich noch nicht beantworten, da „2017“ ja noch nicht vorüber ist. Doch es gibt Hinweise.
Die Stadt Augsburg jedenfalls meldete im Frühjahr reges Interesse an Thema und Person. Die ehemalige Fuggerstadt war Schauplatz des wichtigen Augsburger Reichstags 1530 und des Augsburger Religionsfriedens 1555. Luther musste sich hier 1518 vor dem päpstlichen Gesandten Cajetan verantworten und floh nachts zu Pferde wegen drohender Gefangennahme. Schon in den ersten Monaten bis Februar 2017 war das Interesse an Führungen rund um Luther und die Reformation höher als im gesamten Jahr 2016. Eilig wurde bei den Stadtführungen nachgeschult. Auch aus Worms und anderen Lutherstätten war Vergleichbares zu hören.
„Luther hat gezogen“, konstatiert der Journalist Hannes Leitlein. Einige tausend Veranstaltungen gab es im ganzen Land. Ob beim Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) von verdi, bei Geschichtsvereinen und in Schulen, ob im Europapark Rust: Quer durch alle Gesellschaftsbereiche fand eine Auseinandersetzung mit dem Reformator statt. 95 Thesen gegen das Bankenwesen schlug in Wittenberg eine Gruppe um Gregor Gysi an. Rund um Wasser, Klima, Boden und Ernährung publizierten Slowfood und Misereor „95 Thesen für Kopf und Bauch“.
Davon irgendwas gehört? Kommt die Presse ihrem Auftrag nach?
Schnattern Enten oder quaken sie?
Vor allem viel Gequake war zu hören, man dürfe über Licht nur reden, wenn sich irgendwo ein Schatten findet. Standhaftigkeit wurde pejorativ in Dickköpfigkeit verdreht, historische Kontexte ausgeblendet, mit der Selbstgerechtigkeit des hochanständigen 21. Jahrhunderts über geschichtliche Umstände des Mittelalters eine Art Presse-Tribunal gehalten. In der Tat: Luther konnte noch nicht mal Autofahren.
Gleichzeitig wurde damit eine neue „Geburtstagsregel“ aufgestellt: Jubilare müssen sich in Zukunft darauf einstellen, dass sie zum Jubeltag nur dann erscheinen dürfen, wenn an demselben alles Negative zur Sprache kommt, das sich im Lauf des Lebens je angesammelt haben könnte. Eine neue Ententheorie muss her!
Beteiligungsjubiläum mit mehreren tausend Veranstaltungen
Zum Glück gibt es aber nicht nur Enten auf der Welt. Über Luther und die Reformation gibt es viel Positives zu erzählen. Und das wird und wurde auch getan.
Natürlich gab es besonders viele Veranstaltungen in Gemeinden. Mit Poetry-Slams, Luther-Escape-Rooms, offenen Tafeln auf Marktplätzen, Lesemarathons, Geo-Cache und Actionbound-Aktionen und vielem mehr, hat hier mancher Ort einen wahren „Kreativitätsschub“ erlebt.
Die Hessen haben's gezählt: Über 9000 Veranstaltungen gab es allein auf dem Gebiet der Landeskirche Hessen-Nassau. In den meisten anderen Landeskirchen sieht es nicht anders aus. Tatsächlich ein „Basis- und Beteiligungsjubiläum“ mit viel Einsatz, Vorbereitungszeit und Resonanz vor Ort. In manchen Regionen haben ganze Stadt- und Dorfgesellschaften am Reformationsgedenken mitgemacht. Kleist-Museum, Nietzsche-Tagung, 117. Deutscher Wandertag, auch nicht-kirchliche Organisationen haben das 500-Jahr-Jubiläum aufgegriffen.
Besonders vielseitig war und ist die Luther-Präsenz auf dem Büchermarkt. Das gilt für Luthers Schriften selbst wie für Bücher über die Reformation.
Luther ein Bestseller - auch 2017
Sage keiner, Martin Luther würde heute nicht gelesen:
Die Freiheitsschrift von 1520 (Von der Freiheit eines Christenmenschen) ist in einer Neuausgabe, hg. von Christiane Kohler-Weiß, im Gütersloher Verlag erschienen: Von der Freiheit - 3. Auflage.
Luthers 95 Thesen von 1517 sind bei mindestens drei verschiedenen Verlagen im Programm (reclam-Verlag, Fischer Taschenbuch, 2. Auflage, auch im Klassiker-Verlag Anaconda, obendrein erhältlich als Plakatdruck). Auf Deutschlandradio.de gibt es übrigens eine schöne Serie zur Kommentierung jeder einzelnen der 95 Thesen, läuft bis 31. Oktober (Luthers Thesen, neu gelesen).
Luthers Kleiner Katechismus von 1529 ist seit jeher ein Dauerbrenner (32. Auflage bei Gütersloh, es gibt ebenfalls eine Ausgabe bei Anaconda; eine Adaption in neuerer Sprache ist in Fabian Vogts Handbuch Luther für Neugierige enthalten, das 2017 in 7. Auflage erhältlich ist.
Es ließe sich natürlich auch auf die diversen Werkausgaben hinweisen, wie die Ausgewählten Schriften der Suhrkamp-Ausgabe in 6 Bänden (Neuausgabe 2016, Insel-Verlag) oder die kompakte Textausgabe von Matthias Deuschle, um nur zwei Beispiele von mindestens fünf zu nennen.
Ganz abgesehen von den zahlreichen Zitatesammlungen, die es von Luther gibt, wie Schlag nach bei Luther, 6. Auflage, Tischreden im Verlag marix, 2. Auflage 2017, oder in 9. Auflage „Luther kurz und knackig“.
Mit seinen Schriften ist Luther 2017 viel gelesen und gut präsent. Hinsichtlich Auflage lässt er lässig etliche zeitgenössische Autoren hinter sich.
Doch Quak, Quak, Quak, was sagt die Ente? „Luther finde angeblich kaum Interesse“. Kontrafaktisch werden Tatsachen verschwiegen oder verdreht.
Lutherbibel: Der unangefochtene Star des Reformationsjubiläums
Doch der Luther-Dreh geht eigentlich in eine andere Richtung. Der Star unter den Luther-Publikationen ist natürlich auch 2017 wieder seine Bibelübersetzung. Die neu aufgelegte Lutherbibel 2017 wurde entgegen etlichem Vorab-Gegrummel eine verlegerische Erfolgsgeschichte. 635 000 Exemplare sind im Herbst 2017 bereits in Umlauf. 460 000 gedruckt, 175 000 als Digital-Downloads. Das heißt, auf jede zweite Luther-Playmobilfigur (über 1 Million Exemplare) kommt eine Bibel. Kein schlechter Schnitt. Und Weihnachten steht erst noch vor der Tür...
Lutherbibel 2017
Gesamt:
635 000 Exemplare
----------------------------------------------------
davon:
460 000 gedruckt
175 000 digital
(Stand Oktober 2017)
Übrigens: Warum der Titel nicht auf den Bestsellerlisten erschienen ist? Die Bibel ist schlicht zu erfolgreich. Irgendjemand hat beschlossen, Bücher, die echte Longseller sind und ständig die Rekorde brechen, permanent einfach unter den Tisch fallen zu lassen. So kann man's natürlich auch machen. Es gibt da übrigens noch einige weitere Kandidaten in dieser Kategorie.
Interessant an der Lutherbibel 2017 ist außerdem, dass viele namhafte Personen des öffentlichen Lebens sich für die Gestaltung einer Sonderedition gewinnen ließen: Jürgen Klopp, Janosch, Klaus Meine, das Künstler-Ehepaar Wolfgang Dauner und Randi Bubat, Schauspieler Armin Mueller-Stahl und andere. Die Beteiligten, die der Kirche mal näher, mal weniger nahe stehen, gestalteten das Titelblatt und einen besonderen Schmuckschuber.
Luther ist angekommen: In der Breite, in der Mitte, in der Spitze
Interessant ist auch hier das breite Spektrum der Beteiligten. Ob Sportler, Musiker, Künstler oder Schauspieler. Die Bandbreite ist enorm. Das lässt sich ebenso von den verschiedenen offiziellen Reformationsbotschaftern 2017 sagen, unter denen zahlreiche namhafte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind: der frühere Bürgermeister Bremens Jens Böhrnsen, Nachrichtenmoderatorin Gundula Gause, Christopher Posch, Eckhard von Hirschhausen, Schauspieler Julian Sengelmann, Wirtschaftsjournalist Frank Lehmann, Buchautor und Schauspieler Samuel Koch, Frauke Ludowig, Anke Sevenich, Ludwig Güttler, Barbara Lambrecht-Schadeberg, ESA Generaldirektor Johann-Dietrich Wörner, Regisseur Nico Hofmann, Herbert Henzler, u.a.m.
Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel und Kanzlerin Angela Merkel haben sich zu positiven Wirkungen von Martin Luther freimütig bekannt.
Von dem allem nichts gehört? (Allgemein zur Berichterstattung in deutschen Medien: s.o.)
In Zeiten, wo Journalisten als Aktivisten agieren und Medien eine ideologische Selektion und eine Art Berichts-Verweigerung praktizieren, war es insofern eine richtige Entscheidung, die interessanten Themen rund um die Reformation vorerst zurückzuhalten…
Perspektiven auf Luther
Dass Luther in der Breite der Gesellschaft, in der Spitze der Gesellschaft, ja in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, belegt schlussendlich auch das kaum übersehbare Panorama weiterer Lutherliteratur auf dem Büchermarkt.
Aus vielseitigen Blickwinkeln wird der Wittenberger ausgeleuchtet: Uwe Siemon-Netto, porträtiert Luther als Lehrmeister des Widerstands. Ulrich Duchrow fordert Mit Luther, Marx & Papst den Kapitalismus überwinden. Gerhard Wegner thematisiert die lutherische Berufsethik, der Philosoph und Medienkritiker Norbert Bolz empfiehlt: Zurück zu Luther.
In den 95 Statements bei Alf Christophersen, Luther und wir (reclam-Verlag) kommen Persönlichkeiten wie Volker Gerhardt, Michael Wolffsohn, Alexander Kluge, Reinhard Marx, Reiner Haseloff, Karl-Heinz Ott, Dorothea Sattler, Mathias Nawrat, Christian Thielemann zu Wort.
Auch auf Bestsellerformat haben es einige Titel hier geschafft: Allen voran Christian Nürnberger und Petra Gerster mit ihrem Buch Der rebellische Mönch, die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten, 8. Auflage. Fabian Vogt hat mit Luther für Eilige, 3. Auflage, neben der oben erwähnten 7. Auflage von Luther für Neugierige einen weiteren „Top-Titel“ platziert. Die brillante Darstellung von Martin Luthers Theologie in heutiger Verantwortung von Oswald Bayer, eine Mischung aus Fachbuch und allgemeinverständlicher Darstellung liegt ebenfalls in 4. Auflage vor (Verlag Mohr Siebeck). Der kombinierte Reiseführer von Wolfgang Hoffmann, Der Reformator Martin Luther wurde gleichfalls in 4. Auflage verlegt. Mit sieben Auflagen hat zudem der Journalist Andreas Malessa mit seinem Lutherbuch Hier stehe ich, es war ganz anders einen populären Bestseller gelandet.
Wo wir gerade dabei sind, hier noch einige Titel in loser Reihung, die es ebenfalls schon 2017 auf die 2. Auflage gebracht haben: Lehnert/Triegel, Tischreden; Martin Geck, Luthers Lieder; Elke Strauchenbruch, Luthers Weihnachten, Elke Strauchenbruch, Luthers Kinder; Eleonore Dehnert, Katharina – die starke Frau an Luthers Seite, Treu/Ott, Faszination Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Pawlas/Zganiacz, Menschen um Martin Luther. (Die Aufzählung ist nicht vollständig).
Themen und Topoi
Weitere interessante Themata und Topoi im Gefolge der Reformation sind etwa Luthers Einfluss auf die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft (Thomas A. Seidel), Übersetzungstheorien (Joachim Gauck), seine „Modernität“ im Blick auf Fragenkomplexe von Freiheit und freiem Willen, die Einsichten von Sigmund Freud und der Neurowissenschaften vorwegnehmen oder diesen zumindest „ebenbürtig“ sind, seine Bedeutung für die Musikgeschichte, für die Entstehung kritischer Öffentlichkeit, Reformation als Medienereignis und vieles mehr. Da gibt es also noch viel nachzuholen und wiederzuentdecken.
Nebenbei bemerkt: 72 Prozent der Deutschen wünschen sich den Reformationstag als dauerhaften bundesweiten Feiertag.
Interreligiöser Dialog
Schließen wir mit dem interreligiösen Dialog, also mit der Ökumene zwischen Protestanten und Katholiken. Hier liegen auf dem Buchmarkt zahlreiche Impulse vor, die sicher noch im nächsten Jahr und auf viele Jahre für Diskussionsstoff sorgen werden. Zunächst ist Walter Kaspers kleines Lutherbuch zu nennen (3. Auflage 2016), als früherer Chef des Päpstlichen Einheitsrates in Rom hat seine Stimme nach wie vor Gewicht. Die Diskussion des Büchleins hat gerade erst begonnen. Ähnliches lässt sich von den Veröffentlichungen des jetzigen Präsidenten des Einheitsrates Kardinal Kurt Koch sagen: „Wir Christen – wann endlich vereint? Katholisch-reformatorische Denkanstöße“ (vgl. auch sein Buch „Luther für Katholiken“). Einen umfassende, kritische Würdigung des Theologen Luther hat außerdem der katholische Theologieprofessor Peter Neuner vorgelegt, die erst einmal mit ihren knapp 350 Seiten studiert sein will.
Daniela Blum hat einen neuen Blick auf den „Katholischen Luther“ entworfen (Prägungen, Begegnungen, Rezeptionen). Der Tübinger katholische Pastoraltheologe Ottmar Fuchs diskutiert „Die andere Reformation. Ökumenisch für eine solidarische Welt“. Auch Eugen Drewermann hat einen viel beachteten Beitrag zum Lutherjahr verfasst (Luther wollte mehr, 2. Auflage). Der frühere Präses der Rheinischen Kirche und vormalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider hat zusammen mit Bestsellerautor Anselm Grün einen Dialogband herausgegeben: „Luther gemeinsam betrachten“. Das Standardwerk zu Luthers Theologie von Oswald Bayer (s.o.) hat in diesem Kontext gleichermaßen sein Gewicht. Für das evangelisch-katholische Gespräch dürfte also in allen Tonlagen, fachwissenschaftlich, populärwissenschaftlich, kirchenamtlich und aus vielen weiteren Perspektiven für die nächste Zeit genügend zu besprechen sein. (Die Aufzählung ist nicht vollständig.)
Falls es jemand dennoch langweilig ist, findet sich reichlich Stoff, wenn man in der Geschichte etwas zurückgeht: Selbst so kleine Geister wie Herder, Heine oder Hamann wussten, was sie an ihrem Luther hatten. Geht man ins 20. Jahrhundert, würden Ricarda Huch, Günter Grass oder ein Walter Jens auch einiges zum Reformator zu erzählen wissen.
Wenn man diesen Perspektivenreichtum sieht, und etwa zum Dossier des Deutschlandfunks „Luther quergelesen“ vergleicht (Beiträge vom 9. bis 15. Oktober), kommt man schnell zu dem Ergebnis: Die Berichterstattung hat hinsichtlich Themenfülle und substanzieller Tiefe bisher eigentlich kaum mehr als an der Oberfläche gekratzt.
Die Fremdenfeindlichkeit des Feuilletons
Doch scheinbar glaubt man in der Parallelgesellschaft der Medienelite die eigenen Statistik-Verdrehungen. So ist regelmäßig zu hören und zu lesen, die Kirchenmitglieder in Deutschland seien z.B. von 63 auf 61 Prozent der Gesamtbevölkerung gesunken, deshalb seien die kirchlich oder religiös Desinteressierten jetzt in der Mehrheit (61 von 100 ist wie viel?). Jeden Sonntag sitzen immer noch mehr Menschen unter einer Kanzel als die Bundesliga-Stadien besuchen. (Wie ist der Zeitanteil in der Tagesschau?) Die Hälfte der Bevölkerung wird tendenziell in manchen Medien komplett ausgeblendet.
Enten schwimmen eben die meiste Zeit im selben Teich. Doch Obacht: Auf der anderen Seite des Berges wohnen auch noch Leute. 80 Prozent der Weltbevölkerung bekennen sich zu einer Kirche oder Religion.
Doch auch das fremdenfeindliche Feuilleton hat „kirchlich-religiöse Anwandlungen“ für zu fremd erklärt, als dass man sich damit beschäftigen dürfte. Deshalb darf der Flüchtling zwar auch – zurecht – willkommen geheißen werden, muss seine Religion aber nach Grenzübertritt an den Nagel hängen. Gut, dass wenigstens ansatzweise über muslimische Glaubenstraditionen in letzter Zeit mehr berichtet wird. Vielleicht kommen dann auch die 50 - 65 Prozent der anderen Glaubens-“Fremdlinge“ wieder mehr in der deutschen Öffentlichkeit vor. Da es aber keine ernstzunehmenden Leitmedien mehr gibt (vgl. dazu auch Hans Mathias Kepplinger, Totschweigen und Skandalisieren): könnte es wohl darauf hinauslaufen, dass in den kommenden Jahren versucht werden muss, eine ganz neue unabhängige Presselandschaft in Deutschland aufzubauen?
Was ist noch auffällig im Lutherjahr?
1) Die Kirche hat praktisch keinen Pressedienst, der das Ereignis auch nur halbwegs theologisch einordnen, begleiten oder auch nur kommentieren kann.
2) Bis auf ganz wenige Ausnahmen hat die evangelische akademische Theologie einen in ihrer Geschichte beispiellosen Totalausfall offenbart, wirklich ein echter Offenbarungseid, der noch für Jahre und Jahrzehnte seine Wirkung haben dürfte.
3) Zwar haben sich einige Historiker im Lutherjahr zu Wort gemeldet, doch dies in der Regel mit dem einzigen Anspruch, die Reformationsgeschichte zu historisieren. Impulse für die Gegenwart wurden somit systematisch und mit Absicht ausgeschlossen. Hier dürfte sicher eine Neubegründung der theologischen Wissenschaften nötig sein. Denn nur historische Historiker findet man auch bei den Profanhistorikern an den Fakultäten für Allgemeingeschichte – und könnte sie ggf. auch dahin „auslagern“.
Doch immerhin haben die historischen Hilfswissenschaften (wie sie seit einiger Zeit genannt werden) andererseits auf manches Interessante aufmerksam gemacht. So etwa auf die Bedeutung von Spiritualität bei Luther (Mystik und mittelalterliche Frömmigkeit) in Tübingen. In Göttingen wurde die Lektüre von Luthers Frühschriften erneut in den Fokus gerückt (ob dabei ein zukünftiger Schwerpunkt auf die frühen Vorlesungen Luthers oder die Hauptschriften wie Von den guten Werken (1520), Freiheitsschrift (1520), An den christlichen Adel (1520) gelegt wird, wird sich zeigen.)
Quak, Quak, Quak? Als Lutheraner kann man jedenfalls schon ganz zufrieden sein: denn mit dem „Star“ der Lutherbibel steht mit das wichtigste im Mittelpunkt, das man sich wünschen kann. Und das dem Reformator auch voll und ganz entspricht.
Kommentare 71
Luther hat sich auch nur auf die Seite der Herrschaft gerettet. Da ist nix reformatorisches wenn man genau hinschaut, nur konformistische. Er hat die aufständigen Bauern und Bürger im Stich gelassen 1525 und gefordert man solle sie abschlachten. Muss wohl christliche Nächstenliebe gewesen sein.
Sorry ... aufständischen Bauern
Stimmt nicht ganz. Auf den Verlauf des Bürgerkrieges hatten Luthers Schriften letztlich keinen Einfluss - Denn sie kamen immer zu spät, als die Fürsten längst losgeschlagen hatten. Hier gibt es manche Geschichtsklitterung.
im Zusammenhang gemeint sind die aufständischen Bauern : "... zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollenHund erschlagen muss." ... und : "Solche wunderliche Zeiten sind jetzt, dass ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann."
aus : "Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern" (1525) Martin Luther : Werke Band 18 : Weimar 1888 Seite 357-361
Ich kann also keine Geschischtsklitterung erkennen. Luther war ein Opportunist. Wäre er ein echter Reformator gewesen, hätte man ihn mit den Bauern zusammen "wie einen tollen Hund erschlagen".
Man beachte auch sein Wortwahl: verdienen. Das hört sich in etwa wie Lloyd Blankfein (CEO von Goldmann Sachs) an, der auch meint er würde "Gottes Werk" tun.
Monotheismus ist Herrschaftspolitik.
@iDog Ich finde, da muss man ein bisschen die Zeitumstände berücksichtigen. Bauernaufstände gab es schon vor Luther immer wieder. Meist mit demselben Ergebnis. Luther hat sich in der Sache mehrfach schriftlich geäußert, zum Beispiel mit der Schrift „Ermahnung zum Frieden“, die beide Seiten (Fürsten und Bauern) in die Pflicht genommen hat. Einzelne Zitate ohne Kontext zu zitieren ist immer problematisch. Aber die DDR-Geschichtsschreibung hat eine ordentliche Nachwirkung, ich weiß. Die Bauern hatten Martin Luther ausdrücklich als „Schiedsrichter“ angerufen. Sie sind auf seinen Rat, sich auf anderem Wege mit Ihren Forderungen durchzusetzen, dann aber doch nicht eingegangen. (Weinsberger Bluttat, Pazifisten waren die Bauern nicht…) Damals war viel im Umbruch, ein friedliches Vorgehen der Bauern hätte Ihnen vermutlich mehr gebracht, wie man zum Beispiel an den zahlreichen Neuregelungen in Reichsstädten sehen kann.
"Die Kirche hat praktisch keinen Pressedienst, der das Ereignis auch nur halbwegs theologisch einordnen, begleiten oder auch nur kommentieren kann."
Das scheint mir zu stimmen. Aber ich vermute, den braucht sie auch nicht. Die Botschaft muss kaffeekränzchentauglich sein, und das lässt sich mit Jens Böhrnsen, Gundula Gause, Christopher Posch, Eckhard von Hirschhausen, Frank Lehmann, Samuel Koch und Frauke Ludowig (siehe oben) viel besser erledigen.
Nicht zu reden von Margot Kässmann und Peter Hahne.
Aha , und muss man bei der Analyse der Quellen auch die Zeitumstände berücksichtigen, wenn zB. ein Noske 1918/19 die Protofaschisten dazu ermuntert die Aufständischen niederzumetzel .... oder wohlmöglich auch wenn ein schnauzbärtiger Idiot mit dem Segen der Eliten die Jagd auf die Juden eröffnet? Ich denk nicht. Es sollt besser ganz neutral hingesehen werden was die Leute gesagt haben und man sollte sie an ihren Worten erkennen und nicht an einer oportunen Interpretation im Nachhinein.
Ebenso fällt ihr etwas spät angeratener Pazifismus wohl unter die selbe Rubrik. Bauern, die ihre Freiheit mit Gewalt verteidigen, machen das ja nicht als Freizeitgestaltung oder freiwillig. Gewalt im Widerstand gegen erdrückende Herrschaft kommt erst dann auf, wenn nichts anderes mehr geht. Das sollten Sie vielleicht wissen. Wenn Sie mal kurz genau hinschauen wie seit jeher und bis in die jüngste und aktuelle Gegenwartaber auch gewaltloser Widerstand bedingungslos zusammengeschossen wurde und wird, dann können Sie ihr zweites "Argument" zur Relativierung Luthers Position nicht wirklich ernst meinen. Das Problem ist meist, dass man eben nicht so gerne genau hinschaut, weil einem sonst vielleicht das Weltbild aus den Gesicht fallen würde.
@iDog: Da scheint mir aber nun einiges durcheinander zu gehen. Die Bauern wurden ja nicht einfach angegriffen, sondern sind plündernd und brandschatzend losgezogen. Es war nicht „Gewalt im Widerstand“, sondern „Gewalt im Angriff“.
Dass es Ungerechtigkeiten gab, möchte ich damit nicht in Abrede stellen. Obwohl es auch manche „sozial-romantisierende“ Vorstellung der damaligen Verhältnisse gibt. Unter den Aufständischen waren wohl auch viele andere Unzufriedene, Bürger, Kaufleute… Ein Teil der Bauern wurde offensichtlich auch unter Druck ins Bauernheer gezwängt.
"sind plündernd und brandschatzend losgezogen"
ganz ohne Grund und ohne Not ? Wie kann das sein ? Bauern werden ganz plötzlich zu brandschatzenden Vaganten? Ne , so plötzlich ja dann auch nicht. Das ist wohl eine etwas komplexere Situation von sich ausweitenden Ausbeutungs- und Besteuerungsversuchen und anderen Repressionen, die zur sogenannten Bundschuh Bewegung führten, welche dann letzendlich unter dem Beifall Luthers vernichtet wurde.
Es handelte sich also um Widerstand gegen die herrschende Elite. Die Bauer wollten sich verständlicherweise nicht bieten lassen, was man mit ihnen machen wollte. So ist das wohl immer in Situationen, in denen es zu aktivem Widerstand kommt. Die Agression geht wohl historisch betrachtet primär dann doch fast ausschließlich von einer unterdrückenden Herrschaft aus und nicht von deren Opfern. Könnten wir uns vielleicht schon mal zumindest darauf einigen? Das sollte nicht schwer sein, denn sie werden nicht das Gegeteil beweisene können.
Und so war es dann auch 1525, als sich Luther auf die Seite der Gewinner schlug, deren Gewalt mit Sicherheit auch nicht besser war als die der Bauern im Widerstand. Nur die Gewalt der Herrschaft "verdiente sich den Himmel" , anstatt von ihm verurteilt zu werden. Darum geht es. Und er schreibtt es ja selbst. Was gibt es daran zu deuteln. Das ist doch mindesten sehr ambivalent, oder?
Dass dann der Niederschlag der Bewegung zu einem "Verdienst" wurde, sollte nicht wundern, denn es waren immerhin Söldner, die diesen Aufstand niederschlugen. Die Bauern haben hinterher möglicherweise selber dafür bezahlt, dass man sie "wie tolle Hunde erschlagen" hat. Womit sonst als mit den von den Bauern erhobenen Steuern will der Fürst die Söldner bezahlt haben? Zumindest meistens läuft das auch in der christlich geprägten Geschichte in etwa so ab. Der Quellen sind Legion. Lesen doch noch mal im Johannesevangelium nach. Die Apokalypsen sind die Geschtsschreibung der Opfer deren Kultur und Welt vernichtet wurde.
Du mühst Dich vergeblich, aber es ist auch kein Alleinstellungsmerkmal der Protestanten, das eigene System zu immunisieren und ggf. Kritik von außen als unzuständig zurückzuweisen (oder zu verharmlosen).
Luther hat nun mal für die Deutschen (und darüber hinaus) größeren Einfluss ausgeübt und da möchte man nun am Gebäude keine dunklen Flecken sehen.
Die Thematik Luther betrachte ich als eine gewisse Form von Folklore, wie sie auch im katholischen Zweig trefflich (professioneller) betrieben wird. Wenn man aber Deschner, H. Mynarek oder auch Drewerman gelesen hat, dann weiß man doch, dass das alles nur Scheingefechte sind. Die eigentlichen Fragestellungen (Entmythologisierung) sind doch längst gestellt und überzeugend beantwortet worden.
Wenn die Aufklärung (und weitere naturwissenschaftliche Erkenntnisse) nicht die monotheistischen Religionen zumindest eingehegt hätten, dann wären wahrscheinlich die alten feudalen Verhältnisse (Gott gegeben!) nicht überwunden. Aber das betrifft auch die Klasse der Produktionsmittelbesitzer, denn wenn es nach denen in England zu Beginn der industriellen Revolution gegangen wäre, dann hätten wir heute noch Kinderarbeit, als unverzichtbaren Bestandteil der Produktion!
ist ja keine Mühe , sondern nur Geschichte.
Wenn die Aufklärung (und weitere naturwissenschaftliche Erkenntnisse) nicht die monotheistischen Religionen zumindest eingehegt hätten, dann wären wahrscheinlich die alten feudalen Verhältnisse (Gott gegeben!) nicht überwunden.
Wie "offen" die Geschichte im Moment des Geschehens und Entscheidens ist, lässt sich vielleicht daran ermessen, wie unsicher - und mit welch unterschiedlichen Bewertungen - wir, im 21. Jahrhundert, an technologische und soziale Neuerungen herangehen, die man vielleicht in fünfzig Jahren (fast) unisono als nicht nur normal, sondern obendrein als akzeptabel oder als höchst erfreulichen Fortschritt betrachten wird.
Das Christentum oder auch die Reformation werden trotzdem oft als rückwärtsgewandt, reaktionär etc. bezeichnet. Es ist aber nicht das Luthertum, das heute die Ausbeutung des Menschen predigt, und es war schon die Kirche, die (auch als katholische) den Erkenntnisfortschritt voranbrachte - nicht einmal das seinerzeitige chinesische Kaiserreich war sich zu schade dafür, von Jesuiten zu lernen.
Und auch der Konflikt zwischen Fortschritt und Regression (oder Stagnation) war eben auch (oder lange Zeit zwangsläufig fast nur) ein Konflikt innerhalb der Kirche.
Schwarzweißmalerei bringt es da m. E. nicht so - weder schwarz (Pleifel) noch weiß (Margot Käßmann).
" (...)und es war schon die Kirche, die (auch als katholische) den Erkenntnisfortschritt voranbrachte (...)"
Gewagte These und wer sucht, wird sicher auch Belege dafür beibringen können. Die Einwände dagegen dürften aber überwiegen.
"Wie "offen" die Geschichte im Moment des Geschehens und Entscheidens ist, lässt sich vielleicht daran ermessen, wie unsicher - und mit welch unterschiedlichen Bewertungen - wir, im 21. Jahrhundert, an technologische und soziale Neuerungen herangehen, die man vielleicht in fünfzig Jahren (fast) unisono als nicht nur normal, sondern obendrein als akzeptabel oder als höchst erfreulichen Fortschritt betrachten wird."
Dazu müsste man aber mindestens sehr gläubig sein im Sinne eines ideologisch beackerten Fortschrittsglaubens. Man müsste daran glauben , dass das , was die Probleme erzeugt auch die Lösung gegen diese Probleme ist.
Der historische Moment scheint indes nicht nur instabil, sondern auch der eines sichtbaren Scheiterns für die Mehrheit zu sein, eines Scheiterns dieser seit nun 40 Jahren erfolgten neoliberalen Politki als Reaktion auf eine ökonomische Krise, auch als Krise des Kapitalismus oder Wachstumskrise bekannt, der die ökonomischen Eliten durchaus ratlos gegenüberstehen, denn sonst würden sie nicht in Autophagie verfallen und dabei die Struktur zertören, also die infrastrukturelle, soziale und ansatzweise demokratische, von der der Kapitalismus in seiner Funktionsfähigkeit abängt.
Die Fortschrittsgläubigkeit selbst ist in Anbetracht der ökonomischen, ökoligischen und sozialen Misère ebenso in Verruf geraten und quasi als tot zu betrachten. Nur Menschen die sich nicht trauen hinzuschauen, lenken sich von eine Realität ab, die gesellschaftliche Alternativen dringend benötigt und in der eins auf jeden Fall klar ist : Wachstum und sogenannten "Fortschritt" ist nicht nur nicht mehr vorhanden seit geraumer Zeit , sondern der Grund der Misère. Lesen sie mal wieder "Die Grenzen des Wachstums". Dieses Buch von 72 ist heute wahrer denn je.
" (...)und es war schon die Kirche, die (auch als katholische) den Erkenntnisfortschritt voranbrachte (...)"
im Mittelalter gab es da eine Phase wo durch die klösterliche Wirtschaft die Landwirtschaft- und Gartenbautechnik und die Pflanzenheilkunde weiterentwikelt wurde. Aber dazu muss man bedenken, dass dort die quasi einzigen lebten, die nicht Analphabeten waren und dass 50% allen Landbesitzes der Kirche gehörte. Das hörte aber in der frühen Renaissancce mehr oder weinger sofort auf.
Die monotheistisch beeinflusste Philosophie bis einschließlich Kant, Rousseau, Voltaire hat nichts neues gebracht, nur reaktionäres und aufgebackenes. Dazu ist die "Contre-histoire de la Philosophie" von Onfray sehr aufschluss- und quellenreich, allerdings auch sehr umfangreich.
Diese "klösterlichen" Sonderwirtschaftszonen hätte ich auch bei den Pro-Argumenten genannt: aber auch da müsste man genauer hinschauen, unter welchen Umständen das möglich war.
Man brauch sich nur die deutsche Gegenwart anzuschauen, wo die Kirche sich ihrer alten Privilegien erfreut (Reichskonkordat 1933) und den Arbeitnehmern elementare Rechte in den kirchlichen Beschäftigungsverhältnissen "noch" vorenthalten kann.
Wo die Kirche aber durch einzelne Mitglieder in besonderer Weise auf Seiten der Menschen stand (also im Kern die Sache Jesu vertreten hat) sind jene regelmäßig an den restaurativen Kräften gescheitert. Und das ist das eigentliche Problem: aus dem hohlen Gebäude wurde der Inhalt entfernt, genauer ausgetauscht durch den paulinischen (augustinischen) Christus. Aber das würde jetzt zu weit führen.
Dazu müsste man aber mindestens sehr gläubig sein im Sinne eines ideologisch beackerten Fortschrittsglaubens.
Mir scheint, Sie müssten zunächst einmal entscheiden, wie Sie die Sache denn nun betrachten wollen, Idog: aus einer geschichtlichen Perspektive, oder aus ihrer aktuellen, im 21. Jhdt. Beides auf einmal halte ich für unvereinbar, schon darum, weil die Kirche ja nicht just "fortschrittsgläubig" war. Jener Fortschrittsglaube ergibt sich doch erst aus der Aufklärung, die Pleifel der Kirchengeschichte entgegensetzt - als eine die monotheistischen Religionen zumindest "einhegende" Rettung vor dem Feudalismus. Der Kapitalismus, den Sie heute kritisieren, kam später.
Wenn es aber um Geschichte gehen soll, und darum, wie Martin Luthers Rolle in den Bauernkriegen zu bewerten sei, dann lässt sich eben tatsächlich nicht spontan das Maß anlegen, das man selber im Werkzeugkasten hat - zumal Sie aus meiner Sicht keinen nachvollziehbaren Grund dafür nennen, warum Luther ein Opportunist sein soll, und nicht - z. B. ein Eiferer, ein maßlos enttäuschter und gewaltbereiter Supermissionar, oder einfach ein wortgewaltiger Mann mit einem Sockenschuss. Das alles ließe sich ja auf die Schnelle ebenso gut behaupten.
Wo die Kirche aber durch einzelne Mitglieder in besonderer Weise auf Seiten der Menschen stand (also im Kern die Sache Jesu vertreten hat) sind jene regelmäßig an den restaurativen Kräften gescheitert.
Damit hat die Kirche dem Rest der Welt nichts voraus - muss sich aber auch nicht vor ihr verstecken.
ne , ne kein bisschen , das Faktum , dass das Urchristentum nichts mit dem Paulinischen zu tun hat, ist durchaus bemerkenswert, weil es meist igniriert wird indem man immer noch an den paulinischen Unsinn glaubt, der dann dem Tyrannen Constantin ja durchaus in den Kram passte, ohne dass der selber spontan christlich geworden wäre, sondern erst auf den Sterbebett usw.
"Mir scheint, Sie müssten zunächst einmal entscheiden,"
nee, brauchte ich nicht. Sie haben ja vorgelegt. Mein Kommentar an Sie bezieht sich auf Ihren, bzw. auf das Zitzat daraus, über den Fortschritt und wie "wir, im 21. Jahrhundert, an technologische und soziale Neuerungen herangehen". Mit der Kirche hatte ja Ihr Satz, das Zitat, nichts zu tun, sondern ist halt ihre 50 Jahres Prognose ...
Die Nummer mit Luthers Rolle in den Bauernkriegen hab ich nicht mit Ihnen diskutiert und Sie nicht mit mir. Und ich hab auch nicht dazu Stellung genommen, dass Sie behaupten, das Luthertum würde heute nicht die Ausbeutung predigen. Ich weiß nämlich gar nicht wss das Luthertum heute predigt. Interessiert mich ehrlich gesagt auch nicht besonders. Die historischen Zusammenhänge aber, die interessieren mich. ZB. die Frag warum Luther eigentlich nicht unter die Räder , bzw. auf den Scheiterhaufen gekommen, wie so viele andere, die sich dem katholischen Dogma entgegenstellten. Das ist politisch doch interessant, oder? Was war der Deal? Wo liegt das ökonomische Kalkul derer, die in protegiert oder benutzt haben usw.?
Find ich nicht, denn es geht ja um einen interene Konflikt, innerhalb der Kirche und historisch gesehen damit auch um einen innerhalb der Gesamtgesellschaft. Wenn man also von den wohlwollenenden und gnädigen Brüdern udn humanistischen Seelsorgern einerseits ausgeht und den mit Waffengewalt agierenden Missionaren oder grausamsten Genoziden im Namen des Glaubens anderseits wird die Sachlage vielleicht klarer.
Eine weitere Eloge zu allen prominenten Bekenntnissen und Veranstaltungen, rund um das Thesenanschlagsjahr, aus der Tastatur M.Schuetzens. - Solche Lobpreisungen sind nun einmal keine kritischen Betrachtungen oder Würdigung, die tatsächlich viele Termine und Bücher im Lutherjahr leisten, die ein bisschen weniger überbelichtet erscheinen, weniger erfüllt von tiefstem Lutheranertum. - Das ist heute bestimmt liebenswert und unter Umständen gar gottgefällig, aber eben auch, um vorsichtig zu formulieren, reichlich einfältig und an den geschichtlichen Fakten vorbei.
Immer wieder, tauchen trotzdem die dunklen Wolken der lutheranischen Reformation auf (iDog schrieb es bereits, bezüglich des Bauernkrieges) und müssen schnell gebannt werden. Sei es, indem man die Ereignisse des Bauernkriegs von der Reformation entkoppelt und der fürstlichen Obrigkeit die Hauptverantwortung zuschiebt. Sei es, indem man den Bauern einfach absprach, protestanische Kerngedanken zu vertreten.
Darüber wird eben vernachlässigt, dass die Bauern und ihre Anführer, sowie die sie begleitenden Geistlichen erstmals die Bibel und eben die lutheranischen Flugschriften in ihrer Sprache hörten und lasen und ihre Schlüsse bezüglich des Urchristentums, der Urgemeinde, der Freiheit der Christen und der Bedeutung der heiligen Schrift zogen. Die frühneuzeitlichen (Bauern-)Aufstände, von denen es zwischen 1400 und 1525 ca. 450 in Europa gab, fanden nun auch eine völlig überzeugende Begründung in der allerheiligsten Schrift!
Aber ganz abgesehen davon, dass sich die Lutheraner, um zu einer überall anerkannten Kirche überhaupt gelangen zu können, auf den Obrigkeitsgehorsam einließen und beriefen, damit die Abstrafung der Bauern und ihrer Anführer, darunter eben auch lutheranischer Geistlicher, als Pflicht und Gebot, gar Willen Gottes verkündeten, fehlt in diesem Lutherlob- Blog jeder Hinweis auf die "zweite Reformation", die gar nicht unbedingt etwas mit den aufständischen Bauern zu tun hatte und weitestgehend die religiösen Ansprüche der lutherischen Frühschriften, insbesondere jener von der "Freiheit eines Christenmenschen", aufhob.
Parallel zum Bauernkrieg und über dessen Ende hinaus, bis 1528, transformierte sich die lutheranische Reformation zur hierarchisierten, dogmatischen und staatlichen Kirche. In allen reformierten Landesteilen wurde, mit praktisch vollständiger Zustimmung (lediglich 2 bekannte Lutheraner widersetzten sich) der protestantischen Theologen, eine strenge Befragung und Beaufsichtigung aller Geistlichen und der Gemeindeglieder, sofern diese irgendwie als Abweichler auffielen oder angezeigt wurden, durchgeführt.
Wer sich in den Verhören "entlarvte" und nicht den "falschen" Lehren abschwor, wurde, wie es die katholische Inquisition immer schon hielt, der weltlichen Gewalt überantwortet, seiner Bürgerrechte und Ämter, kommunaler und geistlicher, entkleidet, um sein Hab und Gut gebracht und zum Wegzug gezwungen. Einige Hinrichtungen und andere Grausamkeiten der lutheranischen Obrigkeit (Pranger) in den Gemeinden und Städten reichten, um ausreichend Furcht und Zittern zu verbreiten.
Exemplarisch, kann man sich die lutheranische Reform in der freien Reichsstadt Nürnberg und im fürstlichen Umland anschauen. Der zunächst völlig überzeugte Lutheraner Sebastian Franck berichtet dazu in seinen Werken, als Augen- und Ohrenzeuge, als Betroffener und Vertriebener.
Wer einen fundierten Blick zu den Umständen und Abläufen der "zweiten" reformatorischen Wende, die wenig mit Freiheit und Gerechtigkeit zu tun hatte, erlangen möchte, lese einmal in der Dissertation Andreas Wagners, "Das Falsche der Religionen bei Sebastian Franck". Sie steht im Web zur freien Verfügung.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Ja danke , für die Teilnahme, die aussagekräftigen Details und den Hinweis auf die Dissertation. Die hört sich interessant an.
iDog | Community vor einer Stunde @ Columbus
Ja danke , für die Teilnahme, die aussagekräftigen Details und den Hinweis auf die Dissertation. Die hört sich interessant an.
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Und ich danke auch für die schönen Formulierungen ("überbelichtet" u. ä.) bzw. das gesamte Sprachgewand, so pointiert, klar und deutlich ist es dennoch zugleich zurückhaltend bis vorsichtig.
Ich anempfehle Ihnen Wilhelm Zimmermanns "Der Große Deutsche Bauernkrieg ", ein Werk, daß schon auf Grund seines Erscheinungsjahres völlig unverdächtig des Einflusses der DDR-Geschichtsschreibung ist. iDog liegt da wohl ganz richtig.
die anerkennung der weltlichen obrigkeit,
mit dementsprechender folge-bereitschaft,
unterscheidet die landes-kirchlichen reformationen
von täuferischen gemeinden,
deren distanz zu diensten an der weltlichen hierarchie
aus ihren religiösen fundamenten stammt.
mit ihnen war und ist kein staat zu machen.
das hatten sie mit verfolgung, exil und martyrium zu büssen.
Vielen Dank für die ernsthafte, beherzte, „aufgeweckte“ und erfrischende Diskussion, für Reaktionen, Einwände und Hinweise, eigentlich durchgehend fair und weiterführend.
Mal sehen, wie ich auf die verschiedenen Punkte eingehen kann.
Gestern war Sonntag, daher keine Posts von mir ;)
Zum Bauernkriegs-Narrativ generell: Einige Eckpunkte zum zeitlichen Ablauf sind vielleicht ganz informativ. Schon im Jahr 1522, noch auf der Wartburg, schreibt Luther seine „Treue Vermahnung Martin Luthers an die Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung“. Somit konnte jeder wissen, dass man sich für gewaltsame Aufstände nicht auf ihn berufen kann. Dazu mag man stehen wie man will, aber Luther hat diese Linie konsequent durchgehalten.
1525 schreibt er seine „Vermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“ und fordert beide Seiten auf, den Konflikt auf friedlichem Weg zu lösen. Die Fürsten werden darin harsch angegriffen, dass ihnen eine große Schuld für die berechtigte Unruhe im Land zukommt. Von den 12 Artikeln der Bauernschaft nennt er einige ausdrücklich „recht und billig“. Erst weitere Ausschreitungen der Bauern (Weinsberger Bluttat u.a.) lassen Luther zum Schutz der öffentlichen Ordnung eher auf die Seite der „Obrigkeit“ treten. Sein Argument ist dabei selbstverständlich im Hintergrund die Nächstenliebe. Denn die ungeschützt den plündernden Bauernhaufen ausgelieferten „Opfer“, waren keineswegs vor allem „böse“ Adlige, sondern auch viele an den Verhältnissen eher „Unschuldige“.
Gerade hatte man sich im Reich im „Ewigen Landfrieden“ darauf geeinigt, Konflikte nicht mehr mit dem Faust- und Fehderecht zu lösen, sondern auf eine eher zivilisierte Art, auf dem Rechtsweg. Paragraph 1: „Niemand, egal von welcher gesellschaftlicher Stellung, darf jemand anderen bekriegen oder sonstiges Leid zufügen“ vgl. Wikipedia „Ewiger Landfrieden“ von 1495. Das war ein großer Fortschritt, auch im Sinne heutiger Rechtsvorstellungen. (Im Ringen um die neue Austarierung der Machtverhältnisse war damals ja insgesamt viel in Bewegung. Es hätte für die Forderungen der Bauern also auch andere Wege gegeben.)
Es stimmt aber wohl, dass Luther teilweise auch mit Falschinformationen über den genauen Verlauf des Konflikts konfrontiert war. (Damals gab es noch keine Tagesschau…) Als die Auseinandersetzung heiß lief, versuchte er z.B. durch Verbreitung des Friedensvertrags von Weingarten schlichtend einzugreifen. Mit seinen zugegebenermaßen sehr scharfen Formulierungen zum Vorgehen gegen mordende Bauernhaufen war es so, dass diese im Druck erst erschienen sind, als die Fürsten längst von sich aus eingegriffen hatten. Armin Kohnle: „Luthers Stellungnahmen kamen [in dieser Phase] alle zu spät und hatten keinen Einfluss auf den Verlauf des Bauernkriegs. Insofern ist der Vorwurf unberechtigt, das Strafgericht der Fürsten über die Bauern sei eine Folge seiner Schriften gewesen.“
keine Ahnung wer Armin Kohnle ist, aber den besagten Vorwurf, auf den Sie sich schon ein mal weiter oben bezogen haben, wurde hier ja gar nicht geltend gemacht. Hier wurde nur festgestellt (von mir zitiert), dass sich Luther auf die Seite der Obrigkeit gestellt, bzw. vielleicht auch gerettet hat und meinte, die Fürsten würden sich mit dem Massaker an ihren eignen Bauern und Bürgern den Himmel verdienen, was immer das auch hießen sollte. Ich hab es als eine pro-herrschaftliche Positionierung gelesen. Und wer daher kommt, sorry mal, und behaupten will, dass religiöse Positionen nicht politisch einflusreich sind und immer schon waren - besonders in dieser Epoche, Religion und Politik historisch sogar als Synoyme gebraucht werden können so wie heute Wirtschaft und Politik, der versteht vielleicht auch nicht oder ignoriert freiwillig , dass der Protestantismus und der Kalvinismus maßgeblich zur Ideologie des moderen Kapitalismus beigetragen haben, oder sogar den Fakt nicht, den ich oben schon anführte, dass nämlich Monothesimus Herrschaftsideolgie ist. Zumindest wäre mir nicht bekannt welche emanzipatorischen Effekte in Bezug auf die tradierten Herrschaftsverhälnisse Lutherismus oder Protestantismus gehabt haben sollten. Er stellt eher ein Art Neuauflage alten Gedankenguts dar, ähnlich wie später der Liberalismus, aber nur um sich einer eignen, personell nur anders besetzten Herrschaft zu versichern. Wo soll darin der Dreh sein?
Na, wenn "unser Gott" und sein deutsches Sprachrohr Luther hierzulande tatsächlich noch immer so eine "feste Burg" seien, wie uns die von Ihnen aufgezählten Quantitäten glauben machen wollen, dann brauchen Sie doch keine Sorge haben, dass diese Burg nicht bestehe gegen so ein bisschen leugnende Presse, hmm? Von Jürgen Klopp bis Christian Thielemann - na da kann ja nichts passieren.
"emanzipatorische Effekte" gab es zumindest gegenüber Rom, um dann das eigene Gedankengut in die Schriften zu "exegieren".
Das evangelische Christentum zeichnet(e) sich durch besondere Nähe zur Macht aus, insbesondere zur Zeit des Faschismus. Bis heute hat diese Institution auch kein Problem damit, die Soldaten jederzeit an den neuen Fronten zu betreuen (entlasten): alles in der Vereinnahmung Jesu.
Geschicktes Marketing hat es wohl erreicht, das Luther im Gespräch bleibt. Aus den Massenveranstaltungen und Events heraus nun die Bedeutung Luthers abzuleiten, gehört dann halt dazu.
Es sei denn, Gott tritt aus der Kirche aus.
Leider stimmt ihre Interpretation der Haltung Luthers, bezüglich der Bauern nur sehr bedingt und punktuell. Völlig daneben ist allerdings, die Bauernkriegsgeschichte so darzustellen, als habe ihr brutaler Ausgang kaum etwas mit dem Reformator und seiner Kirche zu tun. - Die fatale Zwei Reiche- Lehre und die Aufgabe des frühen lutheranischen (übrigens auch muslimischen) Grundsatzes, kein Zwang im Glauben, wirkten als Ideologie.
Luther selbst beschreibt sich ausdrücklich als Initiator und Propagandist des Vorgehens gegen die Bauern, die übrigens in fast jedem Einzelfall ihrer Gewaltanwendung gegen die Grund- und Lehensherren, vorher ausführliche Petitionen an die jeweilige Landesherrschaft verfassten und von dort auf gehör und Besserung hofften. Dies wurde fast immer mit Hohn, Spott und Brutalität verworfen. - Auf der Seite der Bauern und Städter standen oftmals kleine Ortsgeistliche und manche Minderbrüder.
Die Hauptklage und - Forderung der Bauern lautete: Leibeigenschaft abschaffen, weil sie dem NT widersprach! Dazu: Minderung der Fron- und Spanndienste und der Abgaben, Abschaffung der geistlichen und weltlichen Willkürjustiz, die die Herren (Adel und Geistliche) bevorzugte und von jeglichen Strafen freihielt. Leibeigene Bauern waren rechtlich machtlos, gegen ihre Herren.
Luther bekannte sich 1526: "Ich möchte mich fast rühmen, dass seit der Zeit der Apostel das weltliche Schwert und die Obrigkeit noch nie so deutlich beschrieben und gerühmt worden ist wie durch mich. Sogar meine Feinde müssen das zugeben. Und dafür habe ich doch als Lohn den ehrlichen Dank verdient, dass meine Lehre aufrührerisch und als gegen die Obrigkeit gerichtet gescholten und verdächtigt wird. Dafür sei Gott gelobt!"
1533, zwei Jahre vor seinem Tod, hat sich Luther nochmals ausdrücklich als geistlicher Motor der Verfolgung und Bestrafung der Bauern und ihrer Unterstützer gelobt:
"Prediger sind die größten Totschläger … Ich, Martin Luther, hab im Aufruhr alle Bauern erschlagen, denn ich hab sie heißen totschlagen – all ihr Blut ist auf meinem Hals."
Die beliebtesten Entlastungen der Lutheraner durch die Jahrhunderte: Die Zeit sei eben so gewesen. Die anderen Kirchen (reformierte und römisch- kath. Kirche, griechische Orthodoxie, Täufer, englische Reformierte) hätten es ebenso brutal gehalten. Die Reformierten seien aber "zarter" vorgegangen. - Den völlig offensichtlichen Bruch mit den eigenen Grundthesen, thematisierten sie meist nicht.
Ich wüsste gerne, was Sie zur theologischen Veränderung der lutheranischen Reformation, hin zu Hierarchie, Supervision und Superintendanz, zum absoluten geistlichen Lehramt und zur "strengen", mehrfach von Luther auch so charakteristierten Observanz nach 1525 zu sagen hätten. Diese 180°- Wende muss doch beschrieben werden! - Alle angeführten Fakten ändern letztlich trotzdem nichts, an der großen historischen Bedeutung unseres grobianischen Sprachschöpfers.
Grüße
Christoph Leusch
""emanzipatorische Effekte" gab es zumindest gegenüber Rom"
na das meinte ich natürlich etwas abstrakter ausgedrückt mit der rein personellen Umbesetztung der Deutungshoheit = Herrschaftsanspruch :-))
Ansonsten: ich bin tendenzielle Atheist, oder besser noch Pantheist. Aus einem Realismus, der sich so ergibt, wird klar, dass Marketing und Religion ein und dasselbe sind , allerdings aus zwei entgegegestzten Blickwinkeln. Ich meine, dass weder ein Gott des marketings bedürfen würde, noch dieses egal welchem Pseudopropheten oder Sophisten, denn der hat ja initial nichts anders gemacht. Und Marketing fürs Marketing ist Werbung für die Werbung für die Werbung. Und Sie wissen es ja: wer ein Lüge dreimal wiederholt hofft darauf , dass diese so zur Wahrheit wird. Aber verarschan kann man sich natürlich beser selbst, was dann auch gutgläubig die Meisten in vorrauseilendem Gehorsam besorgen.
Ideologie ist die theoretische Basis erst der Herrschaft und später dann des faktischen Untergangs derselben. Dazwischen ist für die Meisten nur Elend und für ein paar Psychopathen sadistische oder zumindest empathielose Selbstbefriedigung. Erlösen tut einen die Ideologie = Religion also allenfalls vom Leben bzw. von einem Leben im Elend mit illusionärem Überbau.
Persönlich bevorzuge ich ein Leben im Realen. Besser ein wahres Elend erleben als ein falsches Glück, sagt der Philosoph, oder? Denn nur dann kann man dem Elend entgegewirken und braucht kein illusioäres Glück mehr. Ideologie ist das Marketing der Unterdrücker und Tyrannen. Nur Realismus kann dieser psychologisch indoktrinierenden Waffe etwas entgegstellen. Andere nennen es Aufklärung.
Hallo Columbus, die Zitat waren mir noch nicht bekannt , erhellen aber die Ambivalenz einer politisch-religiösen Ethik aufs Beste.
@iDog: „emanzipatorische Effekte in Bezug auf die tradierten Herrschaftsverhältnisse“
Wenn Sie einmal die Zeit vor 1517 mit den nachfolgenden Jahren vergleichen, finden Sie eine Menge emanzipatorische Effekte. Zum Beispiel in der Rechtssprechung u.a.m.
Im Blick auf die damalige enge Verzahnung von kirchlicher und weltlicher Herrschaft hat Luther mit seiner Forderung nach der strikten Unterscheidung beider Bereiche (1523) einen absoluten Meilenstein gesetzt. Dass sich das damals noch nicht 1:1 durchsetzen ließ, kann man schlecht Luther anlasten.
@iDog: Aber Sie haben sicher darin Recht, dass dieser „Meilenstein“ heute kaum im allgemeinen Bewusstsein ist, bzw. erst durch das Lutherjahr 2017 wieder etwas in den Vordergrund gerückt wurde (Stichwort Unterscheidung von Staat und Kirche).
@Columbus: Vielen Dank Herr Leusch, wie stets eine echte Freude, Ihre sprachlich geschliffenen Beiträge zu lesen, auch wenn ich inhaltlich nicht in allem zustimme. Zunächst Danke, dass Sie auf die große Zahl frühere Bauernerhebungen hingewiesen haben. Ganze 450 Aufstände zwischen den Jahren 1400 und 1525 – die Zahl kannte ich bisher noch nicht. Danke außerdem, dass Sie zugestehen, dass Luther insbesondere in der Frühphase den Grundsatz „Kein Zwang im Glauben“ eingefordert hat. Eines seiner bekannten Zitate lautet hier: „Lasset die Geister aufeinanderplatzen, aber die Faust haltet stille.“ Ein anderes: „Man soll einen jeglichen lassen glauben, was er will.“ (von 1528). Man mache sich klar, was das in der damaligen Zeit bedeutet! Wenn der Papst den Bann über jemanden gesprochen hatte, war nach offiziellem Recht der Kaiser dazu verpflichtet, das Todesurteil zu vollstrecken…
Auf die Frage nach der Zeit etwa ab 1529 für die evangelischen Territorien hatte ich Ihnen schon mal in einem früheren Post zu antworten versucht. Da sollte ich bei Gelegenheit wohl etwas weiter ausholen. Für den Moment nochmal der Hinweis auf die Formel sine vi humana, sed verbo: Bischöfe sollen „ohne menschliche Gewalt, sondern allein mit dem Wort“ (CA 28) agieren. Dieses sine vi, sed verbo hat mit und seit der Confessio Augustana (Augsburger Konfession von 1530) in allen lutherischen Kirchen Bekenntnisrang.
Das evangelische Christentum zeichnet sich nicht nur durch besondere Nähe zur Macht aus, es strebt nach der Macht. Dabei ist es sehr erfolgreich. Die politischen Veränderungen 1989/90 sind in wesentlichen Teilen von der Evangelischen Kirche initiiert worden. Fast alle Neugründungen politischer Organisationen in der DDR in dieser Zeit bis hin zur SDP erfolgten aus der evangelischen Kirche heraus. Folgerichtig besetzt sie heute fast alle wichtigen politischen Positionen, besonders im Osten. Das wiederum begünstigt den Auftrieb des Neoliberalismus. Dessen Nährboden ist der Protestantismus.
Es ist dieser politische Erfolg, der es der evangelischen Kirche erlaubt, ihre kirchlichen Jubelfeiern mit Staatsknete zu finanzieren, sich selbst aber außerhalb des Grundgesetzes zu stellen.
@MaLck: Neoliberalismus? Die soziale Marktwirtschaft hat ihre geistigen Väter in der evangelischen Kirche lutherischer Tradition (Freiburger Kreis; Bonhoeffer Kreis).
Nur ist die soziale Marktwirtschaft mittlerweile Geschichte. Sie existiert allenfalls noch in Sonntagsreden und als Leckerlie im Wahlkampf.
Die Soziale Marktwirtschaft hatte schon immer den Vorrang für den Wettbewerb "als Freiheit unternehmerischer Aktivität" verstanden: also mithin auch das Eigentum an den Produktionsmitteln als dessen Grundlage. Die ganze Sozialgesetzgebung folgt dann erst als nachgelagerte "Größe", die zu großen Teilen bereits geschliffen wurde und zwar genau aus wettbewerblichen, marktwirtschaftlichen Gründen.
Zum Verständnis Bonhoeffers zur Demokratie und der natürlichen, göttlichen Ordnung hat Marx passend geschrieben: "Es ist ein großer Unterschied, ob der vollendete Staat wegen des Mangels, der im allgemeinen Wesens des Staats liegt, die Religion unter seine Voraussetzungen zählt, oder ob der unvollendete Staat wegen des Mangels, der in seiner besonderen Existenz liegt, als mangelhafter Staat, die Religion für seine Grundlage erklärt (hier wäre wohl Bonhoeffer zu verorten). (...) Der demokratische Staat, der wirkliche Staat, bedarf nicht der Religion zu seiner politischen Vervollständigung. Er kann vielmehr von der Religion abstrahieren, weil in ihm die menschliche Grundlage der Religion auf weltliche Weise ausgeführt ist (MEW 1, 357-358).
"bedarf nicht der Religion würde ich ersetzen durch "bedarf zumindest nicht der institutionellen Religion", aber der Mensch in seiner Individualität ist ein metaphysisches Wesen mit Fragen wie: Was ist der Mensch? Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? (also über das gegebene ständig hinausdenkende Wesen nach Kant).
"meilenstein"
Erstens: wenn es darum gehen soll was irgendwann irgendeiner schon mal gesagt hat, das aber dann den Umständen entsprechend nicht Wirklichkeit werden konnte , sich also nicht umsetzen ließe, dann wäre Luther bei mir etwa auf Rang 3 498 , denn es gab vor ihm und nach ihm wahrhaftig eine Menge kritischer Geister und Denker, die unter diesem Aspekt wesentlich mehr Achtung verdient hätten.
Gibt es zB ein Epikur-Jahr ? Der hatte wirklich den Dreh raus udn schon nichts von Göttern gehalten und gegen Platon angeschrieben, der den Idealismus / Glauben / Ideologie in den Staat hineingearbeitet hat, um der Herrschaft gefällig zu sein.... Oder vielleicht ein Meslier Jahr als Hommage an den Mann der den Atheismus erfunden hat?
Und wo wir schon bei Meslier sind, komme ich zu zweitens: Die Trennung von Staat und Kirche hat dann ja die Aufklärung mit reichlich Personal und einer sehr bougoisen Revolution geschafft - zumindest hier in Frankreich, dazu brauchte es weniger Luther als Gutenbergs Vorarbeit.
Der besagte Man mit dem Schnauzbart stand auf Platons Seite. Wenn Luther auf Epikurs Seite stand, was ich bezweifle, dann hat er es sich nicht wirklich anmerken lassen.
Allgemeiner haben sie natürlich Recht. Religion ist Privatsache. In ihrer Besenkammer können sie meinetwegen jeden beliebigen Gott anbete so viel sie wollen, und meinetwegen auch dessen Propheten. Aber für den einen oder den andern Propaganda zu machen, halte ich schon für anmaßend und nicht zeitgemäß in einem Sinne der besagt, dass wir, die Menschen wirklich andere, drückende Probleme haben, die mit Religion und Gott nicht zu lösen sein werden, sondern in Gegenteil letztendlich genau darin, nämlich der Dogmatik an sich, ihre Ursache haben.
Wohlsein
Herr Schuetz, die "soziale" Marktwirtschaft ist nicht nur ein Oxymoron , sondern auch eine Veranstaltung des Liberalismus. Aber es war nicht der linke, emanzipatorische Liberalismus sondern der der sogenannten "freien" Märkte, die aber nie frei waren, sondern von ihren Anfängen in Genua und Venedig bis heute eine abgekartetes Spiel zwischen Kapital und Staatsgewalt. Wobei der Staat den Part der Mafia und Inkassobranche, also den Schlägertrupp des Kaptals stellt, um sich vom Kapital die territoriale Ermächtigung finanzieren zu lassen.
Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass das in der kurzen Phase der sogenannten sozialen Marktwirtschaft anders gewesen wäre, auch wenn der/ihr politische/r Mythos anders lautet.
Die sozialen Zugeständnisse an die Lohnarbeiter kamen aus der ökonomischen Situation zustande, die dann in eine antiautoritäre antiestablishment Bewegung mündete. Interessant ist in dem Zusammenhang , dass die 68 Revolution als quasi Ende der "sozialen" Marktwirtschaft, denn Sie meinen ja sicher nicht die von der Kohl nur sprach, weltweit mit brutalster Gewalt und einigen bekannten Morden an einflussreichen Persönlichkeiten dieser Bewegung niedergeschlagen wurde.
Kann man davon ausgehen , dass die evangelische Kirch auch beim Ende des Oxymorons ihre Fingen mit im Spiel hatte?
Kant war aber aus Deist. Und für dieses hinausdenkende Wesen gibt's ja auch die Philosophie , oder? ... und die braucht definitiv keinen Gott. Daher waren Rouseau, Voltaire und Kant auch nicht die Aufklärung wie oft fälschlicherweise behauptet wird, sondern die konformistische Pseudoaufklärung.
Kant war aber auch Deist.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens reicht völlig aus. Wer aber diesen Drang nicht verspürt, Antworten darauf zu erlangen, der sollte sich auch nicht Philosoph nennen.
@iDog @pleifel - "Soziale Marktwirtschaft"
Unter Sozialer Marktwirtschaft verstehe ich zunächst das, was es wahrscheinlich historisch doch auch war, nämlich ein ziemlich cleverer Mittelweg zwischen tendenziell unkontrolliert freien Märkten weitgehend ohne soziale Absicherungen einerseits (wie im angelsächsischen Raum) und einem die Freiheit einschränkenden kommunistisch oder sozialistisch geprägten „Versuch“ andererseits (wie in der DDR/Ostblock). Die Soziale Marktwirtschaft hat ab den 50er Jahren der BRD aufs Ganze gesehen doch einen gehörigen äußeren Wohlstand beschert und erstaunlich stabilen sozialen Frieden, worum „uns“ nicht wenige beneiden.
Ob es diese „Soziale Marktwirtschaft“ heute noch gibt, darüber lässt sich allerdings trefflich streiten.
Luthers Trutzlied hat den Protestantismus geprägt wie kein anderer Choral. Im deutschen Kaiserreich wurde daraus ein vaterländischer Kampfgesang. "Ein feste Burg ist unser Gott".
Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind
mit Ernst er’s jetzt meint,
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seinsgleichen.
Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren;
es streit’ für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.
Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
wie sau’r er sich stellt,
tut er uns doch nicht;
das macht, er ist gericht’:
ein Wörtlein kann ihn fällen.
Das Wort sie sollen lassen stahn
und kein’ Dank dazu haben;
er ist bei uns wohl auf dem Plan
mit seinem Geist und Gaben.#
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
lass fahren dahin,
sie haben’s kein’ Gewinn,
das Reich muss uns doch bleiben.
@m.schuetz
Sie verweisen auf zahlreiche Veranstaltungen zum Luther-Jahr, die in "den" Medien zu kurz gekommen seien. Das ist Unsinn. Bedauerlicher Unsinn, weil Sie entweder nicht recherchiert haben oder sich selbst einfach mal in Szene setzen wollten.
Geben Sie "lutherjahr 2017 medien" bei google.de ein, kommen Sie auf rund 83 100 Ergebnisse. Geben Sie nur "lutherjahr 2017", finden Sie sogar rund 308 000 Ergebnisse bei google.de.
Und Sie werden dann feststellen, dass weder die Öffentlich-Rechtlichen Sender noch sonstige seriöse Medien zum Thema Luther-Jahr nur wie Enten zum Thema rumquaken.
Ihre Kritik an den Medien zur Behandlung des Lutherjahrs ist sowohl "quak quak quak" wie auch Quark (breitgetretener".
@Weinsztein: Ab Frühjahr 1518 drohte Martin Luther der Scheiterhaufen, 1521 wurde er für vogelfrei erklärt, das heißt jeder konnte ihn straffrei töten. Der Kaiser drohte der evangelischen Seite mehrmals mit Krieg, besonders rund um den Reichstag in Augsburg 1530. Im Jahr 1546, (aber/also erst nach Luthers Tod) hat der Kaiser das dann auch wahr gemacht und ist mit seinem Heer gegen die Evangelischen gezogen.
In diesen Kontext gehört das Lied. Wenn Sie genau lesen: Das Lied spricht keinesfalls davon, selbst Krieg zu führen („Mit unserer Macht ist nichts getan“) - Luther hat sich auch gegenüber evangelischen Fürsten immer dagegen ausgesprochen, militärische Mittel einzusetzen. Bis ca. 1530 hat er sogar vertreten, dass nicht einmal ein Verteidigungsrecht gegenüber dem Kaiser bestehe.
Im Lied wird hingegen vertrauensvoll der Schutz einer höheren Macht anbefohlen (Darum heißt es auch „Ein feste Burg ist unser Gott“ und nicht „Ein feste Burg sind irgendwelche Waffen“), es ist zwar also ein Trutzlied, aber gerade kein Kriegslied. Was Jahrhunderte später gegen den Wortlaut daraus gemacht wurde, sollte man nicht Luther zur Last legen.
meinst Du? und was ist wenn die Antwort lautet, dass es keinen "Sinn" gibt im wie auch immer Übergeordneten, Hinausdenkenden, keine Definition , kein Begriff davon notwendig ist, sondern das Leben auch ohne Sinn das Leben bleibt, solange es sich treu bleibt anstatt sich dem Prinzip des Todes zu unterwerfen?
"tendenziell unkontrolliert freien Märkten"
Wachen Sie auf, bitte, Diese "tendenziell unkontrolliert freien Märkten" hat es erwiesenermaßen nie gegeben. Davon können Sie sich mit etwas Engagement = Recherche leicht selber überzeugen. Das ist ja der Mythos, von dem ich schrieb.
Wenn es die "tendenziell unkontrolliert freien Märkten" wirklich geben würde, was ja radikaler Liberalismus schon lange fordert, ohne sich der Folgen wirklich bewusst zu sein , wie ich meine, dann wäre der Kapitalismus schon längst untergegeangen.
Mit Pauken und Trompeten , das ist die propandistische Multiplikation des Mythos , dem auch Sie hier aufsitzen, wird er Ideologisch aufrechterhalten. Ganz realistsich aber nur mit enormen Subventionsvolumia durch Staaten, ergo Steuergeldern des "kleinen Mannes", denn die Profite der staatlich subventionierten global player werden ja nur geringfügig wenn überhaupt versteuert. Alleine die größten 500 Firmen (corporations) der Welt aus den Sektoren Eneregie, Nuklear, Agrar, Militär, Finanzen, IT-Hightech, Pharma , Chemie etc. erhalten zusammen Billonen pro Jahr.
Ohne diese eher unfreiwillige Leistung der Allgemeinheit wäre gar kein Kapitalismus und die Ausbeutung und Unterwerfung = Beherrschung derselben, möglich und nie möglich gewesen. Ich deutete es im letzten Kommentar bereits an.
Da haben wir sie wieder die nicht erfolgte Trennung zwischen Religion und Staat. Denn die akute Religion hat einen Gott , nur ist es nicht der Luthers ... oder vielleicht doch?
Kein Gott hat jemals irgend jemanden vor dem Dahingeschlachtet werden beschützen können. Was für ein übler Witz diese Lied.
Darauf kommt es ja nicht an: Wenn Du stumm duldest bietet Dir Gott garantierte Anerkennung als Asylant in seinem Reich...
Was mir auffällt, ist eine unter Linksdenkenden doch eher untypische Ablehnung, Dinge in Zusammenhänge zu stellen.
Es ist nicht unethisch, so wie Luther die theologischen Forderungen zu stellen, die man für unerlässlich hält, und nicht über sie hinauszugehen.
Seine Forderungen mögen aus reformerischer oder revolutionärer Sicht nicht weit genug gegangen sein, und seine Kompromisse mit der Macht zu weit. Aber man muss schon eine Weile suchen, um in der damaligen Zeit mehr zu finden als bei ihm. Der Mann war - und das durchaus konsistent - Theologe, und nicht Revolutionär.
Der Klarheit halber: weder an seinem Antisemitismus noch an seinen Aufrufen zum Massenmord gegen die Bauern lässt sich etwas schönreden. Aber unterschiedlich damit umgehen kann man - ca. ein halbes Jahrtausend später - durchaus. Wenn Sie Luthers "Bekenntnis" von 1526 zitieren, dann ziehe ich in Betracht, dass solch stolze Ansagen eine rhetorische Technik über Zeiten und Orte hinweg sind. Ich bin dafür sicherlich kein Experte, aber mit einer nochmals verschärften Position auf Vorhaltungen zu reagieren, ist ein Mittel für alle, die Rechthaber sind oder in einer konkreten Situation meinen, sie seien aufs Rechthaben angewiesen.
Selbstverständlich auch für Luther.
Ist das noch ironisch oder schon zynisch ? Eins ist sicher, der Zynismus der Herrschenden kennt in der Hinsicht keine Grenzen. Auch heute nicht. Siehe Transhumanismus à la Kurzweil als Lösung aller lebensfeindlicher Probleme. Da rollen sich einem die Fußnägel auf vor Ekel.
Es gibt keine Rechthaben, es gibt nur Positionen, die bestimme Beurteilungen implizieren. Urteilen ist recht unbeliebt heute, selbst wenn es Tote betrifft. Aber ohne Beurteilung kann man auch keine Position vertreten, schon lange keine eindeutige , nicht ambivalente. Dass es heute kein Denken mehr gibt in der Politik ist diesem Umstand geschuldet. Keiner wagt es, irgend etwas zu beurteilen ... außere selbstvertsändlich anhand des dogmatischen Maßstabs aller Dinge, der Kapitaleffizienz. Aber damit, dieser absolutistischen Rigidität, lieber JR , ist der Untergang sicher - zumindest der des Kapitalismus. Ob den irgend etwas überleben wird, hängt allein von unserer Beurteilungfähigkeit ab, die darüber hinaus existiert oder eben nicht.
"Es ist nicht unethisch, so wie Luther die theologischen Forderungen zu stellen, die man für unerlässlich hält, und nicht über sie hinauszugehen."
Unbenommen, JR´s China Blog, steckt im Protestantismus und seiner Entfaltung auch ein ganz anderes, humanes Potenzial. Wohl hauptsächlich deswegen, weil das NT es hergibt, wenn man es entsprechend liest und befragt. Nichts spricht zudem dagegen, dass sich eine Religion unhintergehbare eigene Grundsätze schafft, mit der sie Gläubige als zugehörig oder nicht zugehörig definiert, also ihre Gemeinschaft festigt, mit der sie nach außen hin auftritt.
Dies teilen evangelische Kirchen, die sich an der Schrift orientieren, mit anderen christlichen Kirchen und dem Islam. Und anders als vielleicht angenommen, bin ich weder dagegen, dass es institutionalisierten Glauben gibt (die Kraft der Gemeinschaft im Glauben), noch habe ich den Anspruch, der Theologe und Glaubensgründer Luther müsse Revolutionär sein.
Diesen Anspruch stellten hingegen eher Lutheraner und andere, gar nicht Linke, aber in dieser Hinsicht tief Gläubige, die sich ein Lutherbild malten, vom Mann der zu seinen Worten und Taten steht, weil er nicht anders könne. Angesichts des immer ausgedrückten Absolutheitsanspruchs, doch den einzig wahren Glauben zu vertreten, vollzogen viele seiner Anhänger, Theologen und Laien, dies in einer großen Selbstbestätigung und auch Selbstüberhöhung nach. Der Staat, zunächst einzig präsent als fürstliche Gewalt und als Stadtregiment, hatte zudem ein Machtinteresse, das sich sehr gut mit der ausschließenden Theologie verband, wenn nach Luther die Bibel gelesen und ausgelegt wurde und eben nicht nach Thomas Müntzer oder Sebastian Franck, oder gar von zahlreichen Laien, die nun selbst in der heiligen Bibel- Deutsch blättern konnten.
Nochmals: Zur Diskussion der theologischen Widersprüche, zwischen dem frühen Luthertum und seiner historisch dann folgenden, kirchlichen Ausformung, einer prinzipiellen Wende, immer unter Anleitung, Zustimmung und Observanz des älterwerdenden Reformators, sind wir hier ja gar nicht fortgeschritten, und es stellt sich doch die Frage, inwieweit dies eben die Veranstaltungen des Lutherjahres versuchen.
Luther hat sich nicht nur im direkten zeitlichen Zusammenhang zu seiner führenden Rolle, zur "Anstiftung" der Bauernverfolgung, bekannt, sondern eben auch noch 1533, zwei Jahre vor seinem Tode, als diesbezüglich lange schon Friedhofsruhe in den reformierten und nun wieder herkömmlich hierarchisierten Gebieten herrschte. - Er war eben Überzeugungstäter.
Wie die deutsche Geschichte mit der Zwei- Reiche- Lehre und der staatsgebundenen protestantischen Kirche weiterlief, wissen sie doch. Was den unbedingten Gehorsam gegenüber der "gottgewollten" Obrigkeit angeht, was den lange gepflegten Unwillen angeht, andere Glaubensbekenntnisse als gleichberechtigt anzuerkennen und auch einen nichtreligiösen Glauben oder gar die Glaubensverneinung zu akzeptieren, immer nach einer Phase der Gesprächsbereitschaft (evangelische Ketzer), der Mission (in Gebieten anderen Glaubens) und des "liebevollen" Bekehrungswunsches (Man denke nur an Luther, die Protestanten und die Judenkonversion), unterscheiden sich die Protestanten und Luther nicht von anderen Bekenntnissen. Insofern stimmt, dass der Reformator eben dies blieb und er kein Revolutionär war.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Wie die deutsche Geschichte mit der Zwei- Reiche- Lehre und der staatsgebundenen protestantischen Kirche weiterlief, wissen sie doch.
Klar. Problematisch wird die Bewertung damit nur dann, wenn man Luther mit der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter bepackt wie einen Widder, um ihn in die Wüste zu jagen - das wäre ja wiederum eine überaus religiöse Vorgehensweise. Es gab keinen automatischen Abmarsch in die Nazi-Ideologie, oder in eine obrigkeitssklavische Gefolgschaft, sondern es gab auch vierhundert Jahre Chance auf Weiterentwicklung.
Das Lutherjahr ist mir weitgehend am Arsch vorbeigegangen. Ich finde aber, dass die Tatsache, dass viele Lutheraner zur Überhöhung ihres Religionsstifters neigen, nicht dazu führen muss, dass man selbst ihre Ansprüche übernimmt und anlegt.
Ich traue der Kirche und ihren Vertretern nicht zu, besser oder progressiver zu handeln als die übrige Gesellschaft. Das bessere Können & Wollen ist personen-, nicht kirchengebunden.
Ich stimme ihnen zu, dass es keinen Automatismus und keine konstante Linie von der protestantischen Reformation, besser, den Reformationen, hin zur Aufklärung und dann in einer Volte, hin zum Faschismus oder Nationalsozialismus gibt. Die Diskussionen dazu sind Legion und bringen nicht viel, wenn sie absolut geführt werden. - Dies macht aber keiner, der sich ein bisschen auskennt.
Die Einflüsse der Reformation auf das Zeitalter der Revolutionen, seien sie nun bürgerlich oder sozialistisch fundiert, sind eher viel geringer, als von den progressiven Anhängern des Glaubens je behauptet.
Allerdings bin ich entschieden anderer Meinung, wenn es um die Fähigkeiten und Möglichkeiten der großen Kirchen und damit auch der evangelischen Kirche als Institution geht, "besser" und/"oder progressiver" sein zu können. Momentan z.B. , sind die Kirchen offiziell auch progressiver als so manche ihrer Gläubigen und einige Amtsvertreter, die mit der Absicht wieder volksnah sein zu können, wieder ein verengtes und auschließendes Selbstbewusstsein predigen, wenn sie sich die Stellungnahmen zum Multikulturalismus, zur inklusiven Gesellschaft, zum Wert des unveränderten Lebens, zu sozialen Fragen, zur Migration ansehen.
Ich habe begründete Hoffnung, dass es gerade heute nicht nur auf Personen, unter Umständen sogar einzelne Personen, sondern immer auch auf Institutionen und deren Position, Aufstellung und Verfasstheit ankommt. Eine Kirche/Religion, die keinen Binnenpluralismus und keine Inklusion kennt und nach außen weder andere Glaubensrichtungen noch die Abwesenheit eines religiösen Glaubens akzeptiert, ist eben nicht mehr tragbar!
Am Beispiel der historischen Reformation kann das schon nachvollzogen werden und spiegelt sich in den beiden Möglichkeiten die sich, die eine geschlagen, die andere erfolgreich, während der Reformationszeit zeigte: Das Prinzip inklusiver und sozialer Gemeinschaft, im Sinne der Urkirche, und zum anderen, das Prinzip der Staatskirche und des verbindlichen Dogmas, das auch für jene zu gelten habe, die sich nicht bekennen wollen und dann, immer im Gauben der Rechtschaffenheit, "Konsequenzen" auferlegt erhalten. - Ich kann ihnen nur empfehlen, einmal ein paar Sachen von Sebastian Franck zu lesen, der, um ihn abzuwerten, immer in die Ecke der radikalen Täufer gepackt wird, die ebenfalls ausschließend dogmatisch wurden. Franck ist der Aufklärung viel näher, als je Luther, besonders auch, wenn es um pacem in terris und den Wert jeder, absolut jeder Person geht, oder wenn es um den Frieden mit der Natur geht. Platz zum Glauben existiert vielleicht nur da, wo er irrational ins Offene führt. Wenn das jemandem mit dem Menschen Jesus, der Dreifaltigkeit, JHWH und Allah gelingt, wenn er das mit Buddha schafft oder allumfassend als Baha'i, pp.. soll es mir Recht sein, weil es das Ende des Selbst- und Fremdopfers unter Menschen in der Geschichte bedeutete.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Dem letzten Absatz kann ich nicht zustimmen. Ich würde soweit gehen zu sagen, daß die Religion, und zwar jede Religion, dem Wesen der Demokratie entgegensteht und somit die Überwindung der Religionen Voraussetzung für wirkliche Demokratie ist. Wesen jeder Religion ist der Glaube an einen höheren Willen, der da zu geschehen habe. Eine ideale Basis für jeden Obrigkeitsstaat. Das kann man in jedem Feudalstaat sehen und das zeigen auch die Entwicklungen beispielsweise in Russland oder der Türkei. In einer Demokratie hat der Wille der Menschen zu geschehen, und zwar der wirkliche, nicht der durch irgend welche Vorbeter im Namen des... in die Hirne geimpften. Davon sind wir noch weit entfernt.
Nebenbei: Das Grundgesetz sagt nicht, daß dieses Volk regiert wird, es sagt, daß dieses Volk regiert. Aber das ist denn vielleicht doch ein anderes Thema.
Der letzte Absatz geht über die Engführung jeglicher Religion hinaus und ist mit den Fragen über den ersten Grund und den letzten Dingen die oberste Disziplin der Philosophie als Metaphysik. Diese Sonderstellung des Menschen war gemeint, die aber in der konkreten Betroffenheit unterschiedlich ausgeprägt ist und manche nie erreicht.
"Aber die DDR-Geschichtsschreibung ...."
Was hat die DDR-Geschichtsschreibung damit zu tun wie man das, was Luther geschrieben hat (oder geschrieben haben soll) und was Zeitgenossen über ihn berichten, interpretiert und beurteilt?
Ihre Meinung beruht (anders als die von iDog) auf vagen Vermutungen.
" dann lässt sich eben tatsächlich nicht spontan das Maß anlegen, das man selber im Werkzeugkasten hat - ..."
Das Messinstrument in meinem Werkzeugkasten misst mit cm. Und Ihres?
"... zumal Sie aus meiner Sicht keinen nachvollziehbaren Grund dafür nennen, warum Luther ein Opportunist sein soll,.."
iDog hat seine Sicht mit Quellen/Zitaten von Luther belegt. Jemand, der im Dunkeln tappt, kann das nicht sehen und ein Blender tut so, als würde er es nicht sehen.
Hoch interessante Fragen, die Sie stellen.
Die Antworten scheinen anstrengend und unbeliebt zu sein. In einer Welt , die sich selber auffrisst, nach den Gründen dafür zu suchen ist nicht jedermanns Sache.
Schaut man sich die akuten Wahlergebnisse an, wird klar : Man will nicht wissen was man tut und erst recht nicht was man getan hat. "Nach mir die Sintflut" ist ein gängiger Spuch aus der Zeit des Absolutismus. Unser römisches Erbe ist das Eigentum mit dem man machen kann was man will - auch es zerstören selbstverständlich ist komplett legal und also das gefürchtete Prinzip der verbrannten Erde.
Das Desinteresse an Antworten auf interessante Fragen ist wie das römische Salz auf Karthagos Böden, eine Waffe im Kampf gegen das Leben. Woher kommt es, dass alle das Leben so verachten?
... oder bekommst den Millennium-Bambi wie der Herr Gauck 2017! Gott hat zu oft Urlaub!