Der Luther-Dreh

Reformationstag 2017 Wie die Kapitalismuskritik von Marx, der Bestseller-Erfolg der Lutherbibel und Luthers emanzipatorische Schriften das Reformationsjubiläum noch „eins weiterdrehen“.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Bevor Zeitungsenten flügge werden und sich verselbständigen, gilt es zu widersprechen. Zur journalistischen Berichterstattung rund um den Reformationstag 2017 ist Widerspruch daher unerlässlich. Merkwürdige Meldungen gehen um. „Das Reformationsjahr ist auserzählt.“ „Neue Aspekte sind nicht zu erwarten.“

Hier quakt sie schon die Ente. Merkwürdig an solchen Meldungen ist ja bereits, dass sie ein Ereignis bilanzieren, dass noch gar nicht stattgefunden hat. Wahre Propheten müssen da am Werk sein, wenn sie vorab wissen, was der Reformationstag 2017 erbringen kann. So lässt sich leicht erkennen, dass es sich um eine ideologisch vorgefasste Ansicht handelt, nicht um einen Tatsachenbericht.

Doch wer erwartet noch Tatsachenberichte in der Zeitung? Von einer großen Vertrauenskrise spricht die Otto-Brenner-Stiftung in einer neuen Studie zum Medienmisstrauen (OSB-Arbeitspapier 27). Und zitiert das Medienmagazin Zapp: „Das Gefühl, den Medien nicht (mehr) vertrauen zu können, ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“ Das Reformationsjahr 2017 liefert dafür einen weiteren Grund und den Beweis.

Studie zu Medienmisstrauen

Für die Studie wurden im Jahr 2016 über 2.400 Probanden befragt. Quakenderweise liefert die mediale Bewertung der Studienergebnisse selbst das beste Beispiel für die bekannt eigenwilligen Presse-Interpretationen. So sind laut Studie kaum mehr als 50 % der Befragten unumwunden zu der Aussage bereit, dass sie klassische Tageszeitungen oder den Öffentlich-Rechtlichen (!) Rundfunk für glaubwürdig halten. Was meldet die ARD-Tagesschau darüber am 6. Oktober 2017: „Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung hat festgestellt, dass viele Bürger den öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Qualitätsmedien vertrauen.“ Und weiter: „Das Vertrauen in Medien bleibt in Deutschland insgesamt hoch.“ Das ist nun das genaue Gegenteil. (Mediale Selbsthypnose - übrigens in einem Beitrag aus der eigens eingerichteten Abteilung „Faktenfinder“ der ARD, man könnte lachen).

Soviel vorab zur Wirklichkeitswahrnehmung und Bewertung von Statistiken in den Medien. Es dürfte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis das verbreitete Misstrauen durch seriöse Medienarbeit wieder überwunden ist. Die Ansicht, dass es lange dauert, teilt auch Stefan Raue, der neue Intendant des Deutschlandradio.

„Luther hat gezogen“

Dieser längere Vorspann war sinnvoll, weil er ein Licht auf den Umgang mit Zahlen und Fakten auch rund um das Reformationsjubiläum wirft. Schon recht früh waren Pressestimmen zu hören, die als eine heimliche Kampagne gegen eine vermeintliche „Luther-Überhöhung“, oder genauer: gegen eine Luther-Feier generell, gedeutet werden konnten. Soll der Reformator demontiert werden? fragte daraufhin ein christliches Medienblatt. Das lässt sich noch nicht beantworten, da „2017“ ja noch nicht vorüber ist. Doch es gibt Hinweise.

Die Stadt Augsburg jedenfalls meldete im Frühjahr reges Interesse an Thema und Person. Die ehemalige Fuggerstadt war Schauplatz des wichtigen Augsburger Reichstags 1530 und des Augsburger Religionsfriedens 1555. Luther musste sich hier 1518 vor dem päpstlichen Gesandten Cajetan verantworten und floh nachts zu Pferde wegen drohender Gefangennahme. Schon in den ersten Monaten bis Februar 2017 war das Interesse an Führungen rund um Luther und die Reformation höher als im gesamten Jahr 2016. Eilig wurde bei den Stadtführungen nachgeschult. Auch aus Worms und anderen Lutherstätten war Vergleichbares zu hören.

„Luther hat gezogen“, konstatiert der Journalist Hannes Leitlein. Einige tausend Veranstaltungen gab es im ganzen Land. Ob beim Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) von verdi, bei Geschichtsvereinen und in Schulen, ob im Europapark Rust: Quer durch alle Gesellschaftsbereiche fand eine Auseinandersetzung mit dem Reformator statt. 95 Thesen gegen das Bankenwesen schlug in Wittenberg eine Gruppe um Gregor Gysi an. Rund um Wasser, Klima, Boden und Ernährung publizierten Slowfood und Misereor „95 Thesen für Kopf und Bauch“.

Davon irgendwas gehört? Kommt die Presse ihrem Auftrag nach?

Schnattern Enten oder quaken sie?

Vor allem viel Gequake war zu hören, man dürfe über Licht nur reden, wenn sich irgendwo ein Schatten findet. Standhaftigkeit wurde pejorativ in Dickköpfigkeit verdreht, historische Kontexte ausgeblendet, mit der Selbstgerechtigkeit des hochanständigen 21. Jahrhunderts über geschichtliche Umstände des Mittelalters eine Art Presse-Tribunal gehalten. In der Tat: Luther konnte noch nicht mal Autofahren.

Gleichzeitig wurde damit eine neue „Geburtstagsregel“ aufgestellt: Jubilare müssen sich in Zukunft darauf einstellen, dass sie zum Jubeltag nur dann erscheinen dürfen, wenn an demselben alles Negative zur Sprache kommt, das sich im Lauf des Lebens je angesammelt haben könnte. Eine neue Ententheorie muss her!

Beteiligungsjubiläum mit mehreren tausend Veranstaltungen

Zum Glück gibt es aber nicht nur Enten auf der Welt. Über Luther und die Reformation gibt es viel Positives zu erzählen. Und das wird und wurde auch getan.

Natürlich gab es besonders viele Veranstaltungen in Gemeinden. Mit Poetry-Slams, Luther-Escape-Rooms, offenen Tafeln auf Marktplätzen, Lesemarathons, Geo-Cache und Actionbound-Aktionen und vielem mehr, hat hier mancher Ort einen wahren „Kreativitätsschub“ erlebt.

Die Hessen haben's gezählt: Über 9000 Veranstaltungen gab es allein auf dem Gebiet der Landeskirche Hessen-Nassau. In den meisten anderen Landeskirchen sieht es nicht anders aus. Tatsächlich ein „Basis- und Beteiligungsjubiläum“ mit viel Einsatz, Vorbereitungszeit und Resonanz vor Ort. In manchen Regionen haben ganze Stadt- und Dorfgesellschaften am Reformationsgedenken mitgemacht. Kleist-Museum, Nietzsche-Tagung, 117. Deutscher Wandertag, auch nicht-kirchliche Organisationen haben das 500-Jahr-Jubiläum aufgegriffen.

Besonders vielseitig war und ist die Luther-Präsenz auf dem Büchermarkt. Das gilt für Luthers Schriften selbst wie für Bücher über die Reformation.

Luther ein Bestseller - auch 2017

Sage keiner, Martin Luther würde heute nicht gelesen:

Die Freiheitsschrift von 1520 (Von der Freiheit eines Christenmenschen) ist in einer Neuausgabe, hg. von Christiane Kohler-Weiß, im Gütersloher Verlag erschienen: Von der Freiheit - 3. Auflage.

Luthers 95 Thesen von 1517 sind bei mindestens drei verschiedenen Verlagen im Programm (reclam-Verlag, Fischer Taschenbuch, 2. Auflage, auch im Klassiker-Verlag Anaconda, obendrein erhältlich als Plakatdruck). Auf Deutschlandradio.de gibt es übrigens eine schöne Serie zur Kommentierung jeder einzelnen der 95 Thesen, läuft bis 31. Oktober (Luthers Thesen, neu gelesen).

Luthers Kleiner Katechismus von 1529 ist seit jeher ein Dauerbrenner (32. Auflage bei Gütersloh, es gibt ebenfalls eine Ausgabe bei Anaconda; eine Adaption in neuerer Sprache ist in Fabian Vogts Handbuch Luther für Neugierige enthalten, das 2017 in 7. Auflage erhältlich ist.

Es ließe sich natürlich auch auf die diversen Werkausgaben hinweisen, wie die Ausgewählten Schriften der Suhrkamp-Ausgabe in 6 Bänden (Neuausgabe 2016, Insel-Verlag) oder die kompakte Textausgabe von Matthias Deuschle, um nur zwei Beispiele von mindestens fünf zu nennen.

Ganz abgesehen von den zahlreichen Zitatesammlungen, die es von Luther gibt, wie Schlag nach bei Luther, 6. Auflage, Tischreden im Verlag marix, 2. Auflage 2017, oder in 9. Auflage „Luther kurz und knackig“.

Mit seinen Schriften ist Luther 2017 viel gelesen und gut präsent. Hinsichtlich Auflage lässt er lässig etliche zeitgenössische Autoren hinter sich.

Doch Quak, Quak, Quak, was sagt die Ente? „Luther finde angeblich kaum Interesse“. Kontrafaktisch werden Tatsachen verschwiegen oder verdreht.

Lutherbibel: Der unangefochtene Star des Reformationsjubiläums

Doch der Luther-Dreh geht eigentlich in eine andere Richtung. Der Star unter den Luther-Publikationen ist natürlich auch 2017 wieder seine Bibelübersetzung. Die neu aufgelegte Lutherbibel 2017 wurde entgegen etlichem Vorab-Gegrummel eine verlegerische Erfolgsgeschichte. 635 000 Exemplare sind im Herbst 2017 bereits in Umlauf. 460 000 gedruckt, 175 000 als Digital-Downloads. Das heißt, auf jede zweite Luther-Playmobilfigur (über 1 Million Exemplare) kommt eine Bibel. Kein schlechter Schnitt. Und Weihnachten steht erst noch vor der Tür...

Lutherbibel 2017

Gesamt:

635 000 Exemplare

----------------------------------------------------

davon:

460 000 gedruckt

175 000 digital

(Stand Oktober 2017)

Übrigens: Warum der Titel nicht auf den Bestsellerlisten erschienen ist? Die Bibel ist schlicht zu erfolgreich. Irgendjemand hat beschlossen, Bücher, die echte Longseller sind und ständig die Rekorde brechen, permanent einfach unter den Tisch fallen zu lassen. So kann man's natürlich auch machen. Es gibt da übrigens noch einige weitere Kandidaten in dieser Kategorie.

Interessant an der Lutherbibel 2017 ist außerdem, dass viele namhafte Personen des öffentlichen Lebens sich für die Gestaltung einer Sonderedition gewinnen ließen: Jürgen Klopp, Janosch, Klaus Meine, das Künstler-Ehepaar Wolfgang Dauner und Randi Bubat, Schauspieler Armin Mueller-Stahl und andere. Die Beteiligten, die der Kirche mal näher, mal weniger nahe stehen, gestalteten das Titelblatt und einen besonderen Schmuckschuber.

Luther ist angekommen: In der Breite, in der Mitte, in der Spitze

Interessant ist auch hier das breite Spektrum der Beteiligten. Ob Sportler, Musiker, Künstler oder Schauspieler. Die Bandbreite ist enorm. Das lässt sich ebenso von den verschiedenen offiziellen Reformationsbotschaftern 2017 sagen, unter denen zahlreiche namhafte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind: der frühere Bürgermeister Bremens Jens Böhrnsen, Nachrichtenmoderatorin Gundula Gause, Christopher Posch, Eckhard von Hirschhausen, Schauspieler Julian Sengelmann, Wirtschaftsjournalist Frank Lehmann, Buchautor und Schauspieler Samuel Koch, Frauke Ludowig, Anke Sevenich, Ludwig Güttler, Barbara Lambrecht-Schadeberg, ESA Generaldirektor Johann-Dietrich Wörner, Regisseur Nico Hofmann, Herbert Henzler, u.a.m.

Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel und Kanzlerin Angela Merkel haben sich zu positiven Wirkungen von Martin Luther freimütig bekannt.

Von dem allem nichts gehört? (Allgemein zur Berichterstattung in deutschen Medien: s.o.)

In Zeiten, wo Journalisten als Aktivisten agieren und Medien eine ideologische Selektion und eine Art Berichts-Verweigerung praktizieren, war es insofern eine richtige Entscheidung, die interessanten Themen rund um die Reformation vorerst zurückzuhalten…

Perspektiven auf Luther

Dass Luther in der Breite der Gesellschaft, in der Spitze der Gesellschaft, ja in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, belegt schlussendlich auch das kaum übersehbare Panorama weiterer Lutherliteratur auf dem Büchermarkt.

Aus vielseitigen Blickwinkeln wird der Wittenberger ausgeleuchtet: Uwe Siemon-Netto, porträtiert Luther als Lehrmeister des Widerstands. Ulrich Duchrow fordert Mit Luther, Marx & Papst den Kapitalismus überwinden. Gerhard Wegner thematisiert die lutherische Berufsethik, der Philosoph und Medienkritiker Norbert Bolz empfiehlt: Zurück zu Luther.

In den 95 Statements bei Alf Christophersen, Luther und wir (reclam-Verlag) kommen Persönlichkeiten wie Volker Gerhardt, Michael Wolffsohn, Alexander Kluge, Reinhard Marx, Reiner Haseloff, Karl-Heinz Ott, Dorothea Sattler, Mathias Nawrat, Christian Thielemann zu Wort.

Auch auf Bestsellerformat haben es einige Titel hier geschafft: Allen voran Christian Nürnberger und Petra Gerster mit ihrem Buch Der rebellische Mönch, die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten, 8. Auflage. Fabian Vogt hat mit Luther für Eilige, 3. Auflage, neben der oben erwähnten 7. Auflage von Luther für Neugierige einen weiteren „Top-Titel“ platziert. Die brillante Darstellung von Martin Luthers Theologie in heutiger Verantwortung von Oswald Bayer, eine Mischung aus Fachbuch und allgemeinverständlicher Darstellung liegt ebenfalls in 4. Auflage vor (Verlag Mohr Siebeck). Der kombinierte Reiseführer von Wolfgang Hoffmann, Der Reformator Martin Luther wurde gleichfalls in 4. Auflage verlegt. Mit sieben Auflagen hat zudem der Journalist Andreas Malessa mit seinem Lutherbuch Hier stehe ich, es war ganz anders einen populären Bestseller gelandet.

Wo wir gerade dabei sind, hier noch einige Titel in loser Reihung, die es ebenfalls schon 2017 auf die 2. Auflage gebracht haben: Lehnert/Triegel, Tischreden; Martin Geck, Luthers Lieder; Elke Strauchenbruch, Luthers Weihnachten, Elke Strauchenbruch, Luthers Kinder; Eleonore Dehnert, Katharina – die starke Frau an Luthers Seite, Treu/Ott, Faszination Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Pawlas/Zganiacz, Menschen um Martin Luther. (Die Aufzählung ist nicht vollständig).

Themen und Topoi

Weitere interessante Themata und Topoi im Gefolge der Reformation sind etwa Luthers Einfluss auf die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft (Thomas A. Seidel), Übersetzungstheorien (Joachim Gauck), seine „Modernität“ im Blick auf Fragenkomplexe von Freiheit und freiem Willen, die Einsichten von Sigmund Freud und der Neurowissenschaften vorwegnehmen oder diesen zumindest „ebenbürtig“ sind, seine Bedeutung für die Musikgeschichte, für die Entstehung kritischer Öffentlichkeit, Reformation als Medienereignis und vieles mehr. Da gibt es also noch viel nachzuholen und wiederzuentdecken.

Nebenbei bemerkt: 72 Prozent der Deutschen wünschen sich den Reformationstag als dauerhaften bundesweiten Feiertag.

Interreligiöser Dialog

Schließen wir mit dem interreligiösen Dialog, also mit der Ökumene zwischen Protestanten und Katholiken. Hier liegen auf dem Buchmarkt zahlreiche Impulse vor, die sicher noch im nächsten Jahr und auf viele Jahre für Diskussionsstoff sorgen werden. Zunächst ist Walter Kaspers kleines Lutherbuch zu nennen (3. Auflage 2016), als früherer Chef des Päpstlichen Einheitsrates in Rom hat seine Stimme nach wie vor Gewicht. Die Diskussion des Büchleins hat gerade erst begonnen. Ähnliches lässt sich von den Veröffentlichungen des jetzigen Präsidenten des Einheitsrates Kardinal Kurt Koch sagen: „Wir Christen – wann endlich vereint? Katholisch-reformatorische Denkanstöße“ (vgl. auch sein Buch „Luther für Katholiken“). Einen umfassende, kritische Würdigung des Theologen Luther hat außerdem der katholische Theologieprofessor Peter Neuner vorgelegt, die erst einmal mit ihren knapp 350 Seiten studiert sein will.

Daniela Blum hat einen neuen Blick auf den „Katholischen Luther“ entworfen (Prägungen, Begegnungen, Rezeptionen). Der Tübinger katholische Pastoraltheologe Ottmar Fuchs diskutiert „Die andere Reformation. Ökumenisch für eine solidarische Welt“. Auch Eugen Drewermann hat einen viel beachteten Beitrag zum Lutherjahr verfasst (Luther wollte mehr, 2. Auflage). Der frühere Präses der Rheinischen Kirche und vormalige EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider hat zusammen mit Bestsellerautor Anselm Grün einen Dialogband herausgegeben: „Luther gemeinsam betrachten“. Das Standardwerk zu Luthers Theologie von Oswald Bayer (s.o.) hat in diesem Kontext gleichermaßen sein Gewicht. Für das evangelisch-katholische Gespräch dürfte also in allen Tonlagen, fachwissenschaftlich, populärwissenschaftlich, kirchenamtlich und aus vielen weiteren Perspektiven für die nächste Zeit genügend zu besprechen sein. (Die Aufzählung ist nicht vollständig.)

Falls es jemand dennoch langweilig ist, findet sich reichlich Stoff, wenn man in der Geschichte etwas zurückgeht: Selbst so kleine Geister wie Herder, Heine oder Hamann wussten, was sie an ihrem Luther hatten. Geht man ins 20. Jahrhundert, würden Ricarda Huch, Günter Grass oder ein Walter Jens auch einiges zum Reformator zu erzählen wissen.

Wenn man diesen Perspektivenreichtum sieht, und etwa zum Dossier des Deutschlandfunks „Luther quergelesen“ vergleicht (Beiträge vom 9. bis 15. Oktober), kommt man schnell zu dem Ergebnis: Die Berichterstattung hat hinsichtlich Themenfülle und substanzieller Tiefe bisher eigentlich kaum mehr als an der Oberfläche gekratzt.

Die Fremdenfeindlichkeit des Feuilletons

Doch scheinbar glaubt man in der Parallelgesellschaft der Medienelite die eigenen Statistik-Verdrehungen. So ist regelmäßig zu hören und zu lesen, die Kirchenmitglieder in Deutschland seien z.B. von 63 auf 61 Prozent der Gesamtbevölkerung gesunken, deshalb seien die kirchlich oder religiös Desinteressierten jetzt in der Mehrheit (61 von 100 ist wie viel?). Jeden Sonntag sitzen immer noch mehr Menschen unter einer Kanzel als die Bundesliga-Stadien besuchen. (Wie ist der Zeitanteil in der Tagesschau?) Die Hälfte der Bevölkerung wird tendenziell in manchen Medien komplett ausgeblendet.

Enten schwimmen eben die meiste Zeit im selben Teich. Doch Obacht: Auf der anderen Seite des Berges wohnen auch noch Leute. 80 Prozent der Weltbevölkerung bekennen sich zu einer Kirche oder Religion.

Doch auch das fremdenfeindliche Feuilleton hat „kirchlich-religiöse Anwandlungen“ für zu fremd erklärt, als dass man sich damit beschäftigen dürfte. Deshalb darf der Flüchtling zwar auch – zurecht – willkommen geheißen werden, muss seine Religion aber nach Grenzübertritt an den Nagel hängen. Gut, dass wenigstens ansatzweise über muslimische Glaubenstraditionen in letzter Zeit mehr berichtet wird. Vielleicht kommen dann auch die 50 - 65 Prozent der anderen Glaubens-“Fremdlinge“ wieder mehr in der deutschen Öffentlichkeit vor. Da es aber keine ernstzunehmenden Leitmedien mehr gibt (vgl. dazu auch Hans Mathias Kepplinger, Totschweigen und Skandalisieren): könnte es wohl darauf hinauslaufen, dass in den kommenden Jahren versucht werden muss, eine ganz neue unabhängige Presselandschaft in Deutschland aufzubauen?

Was ist noch auffällig im Lutherjahr?

1) Die Kirche hat praktisch keinen Pressedienst, der das Ereignis auch nur halbwegs theologisch einordnen, begleiten oder auch nur kommentieren kann.

2) Bis auf ganz wenige Ausnahmen hat die evangelische akademische Theologie einen in ihrer Geschichte beispiellosen Totalausfall offenbart, wirklich ein echter Offenbarungseid, der noch für Jahre und Jahrzehnte seine Wirkung haben dürfte.

3) Zwar haben sich einige Historiker im Lutherjahr zu Wort gemeldet, doch dies in der Regel mit dem einzigen Anspruch, die Reformationsgeschichte zu historisieren. Impulse für die Gegenwart wurden somit systematisch und mit Absicht ausgeschlossen. Hier dürfte sicher eine Neubegründung der theologischen Wissenschaften nötig sein. Denn nur historische Historiker findet man auch bei den Profanhistorikern an den Fakultäten für Allgemeingeschichte – und könnte sie ggf. auch dahin „auslagern“.

Doch immerhin haben die historischen Hilfswissenschaften (wie sie seit einiger Zeit genannt werden) andererseits auf manches Interessante aufmerksam gemacht. So etwa auf die Bedeutung von Spiritualität bei Luther (Mystik und mittelalterliche Frömmigkeit) in Tübingen. In Göttingen wurde die Lektüre von Luthers Frühschriften erneut in den Fokus gerückt (ob dabei ein zukünftiger Schwerpunkt auf die frühen Vorlesungen Luthers oder die Hauptschriften wie Von den guten Werken (1520), Freiheitsschrift (1520), An den christlichen Adel (1520) gelegt wird, wird sich zeigen.)

Quak, Quak, Quak? Als Lutheraner kann man jedenfalls schon ganz zufrieden sein: denn mit dem „Star“ der Lutherbibel steht mit das wichtigste im Mittelpunkt, das man sich wünschen kann. Und das dem Reformator auch voll und ganz entspricht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

m.schuetz

Hobby-Intellektueller, angehender Humorist, (jetzt auch Spaßblogger, Aktivist und Bürgerrechtler), twittert hier nicht

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden