Abstand vom Anstand

Gefühlt Fehlendes Benehmen

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Der Geist ist der Flasche entkommen und nun nicht mehr einzufangen. Es ist der Geist der Unanständigkeit. Respektvoller Umgang war gestern, wir leben im Zeitalter der Pöbler, Nörgler und Besserwisser. Die Grenze zwischen Meinungsäußerung und Beleidigung scheint mehr und mehr fließend zu sein und zu verschwimmen.

In so manchem Diskussionsforum setzt man weniger auf Sachargumente, stattdessen mehr auf Beleidigung, persönliche Diffamierung und Verächtlichmachung. Da tun sich schon mal regelrechte Abgründe auf und es stellt sich die Frage, ob bei manchem, der sich öffentlich äußert, die Kinderstube versagt hat. Manchmal versuchen sich hier Leute Gehör zu verschaffen, von denen man lieber nichts hören will. Gerade Menschen, die sich nicht ernst genommen fühlen, nehmen dabei andere nicht ernst. Widersprüchlicher kann es manchmal nicht zugehen. Und unter Umständen ist Schweigen besser, als Senf hinzugeben, wo er nicht hingehört.

Es sind auch nicht nur jene Leute, die sich aktuell als Retter des Abendlandes und alternativlose Alternative des deutschtümelnden Nationalismus fühlen. Von ihnen und ihrem Gebrauch von anrüchigen Wörtern ist ja vielfach nichts anderes zu erwarten. Ihre Hetze gegen das „linksversiffte Establishment“ ist nur symptomatisch für ihr Denken.

Nein, es sind auch Eliten darunter, führende Politiker und Menschen des öffentlichen Lebens, die eine gewisse Akzeptanz genießen und die ein Leitbild abgeben sollten, aber leider als solches komplett versagen.

Wenn Gerhard Schröder als SPD-Mann, als Mitglied der Partei, die sich als Anwalt der kleinen Leuteversteht, Aufsichtsratsvorsitzender wird, so ist das ganz und gar nicht verboten, aber es ist unanständig. Aber irgendwie auch konsequent sozialdemokratisch. Denn nur in Wahlkampfzeiten entdeckt die SPD den kleinen Mann für sich, sobald sie in Regierungsverantwortung gerät, verhält sie sich wirtschaftsliberal und eher kapitalfreundlich.

Unanständigkeit ist eine weit verbreitete Form öffentlichen Verhaltens. Dass Männer in geschlossenen Räumen keine Hüte oder Mützen tragen – geschenkt, gilt nicht mehr. Dass Menschen sich gegenseitig die Türen aufhalten, ist nur noch selten zu beobachten. Das Benehmen wird, so scheinen es Beobachtungen im Alltag nahezulegen, allgemein egozentrischer. Immer wieder wird davon berichtet, dass Mitmenschen bei Unfällen lieber filmen und posten statt zu helfen.

Besonders fläzig benehmen sich auch Politiker, die mit beiden Händen in den Hosentaschen vor Fernsehkameras stehen und ihre Anschauungen absondern. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Engländer Boris Johnson. Seinem Verhalten nach muss er einer anderen Nation angehören, sagt man doch den Briten besonders nobles Verhalten nach.

Verbale und körperliche Lümmelhaftigkeit ist salonfähig geworden, nicht erst, seit eine neue Sorte Politiker sich aufmacht, das Eigene vor das Andere zu stellen. Wie können wir aber von den Zugewanderten den Respekt vor „unseren Werten“ einfordern, wenn wir diese selbst nicht als normativ anerkennen. Wobei niemand klar definieren kann, worin diese Werte eigentlich bestehen.

Wenn nun schon diejenigen, welche im öffentlichen Leben stehen, sich gelegentlich nicht zu benehmen wissen, so sollte es wenigstens die große Mehrheit tun, zumindest versuchsweise. Respektvoller Umgang lohnt sich, er ist wie ein Bumerang, der zu seinem Ausgangspunkt zurückkommt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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