Aus den Fugen

Systemfehler Betrachtungen zur Lage und eine bittere Erkenntnis

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Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Nicht nur im Großen durch einen Riss in der Gesellschaft, durch die Teilung in Fortschrittsgläubige und Rückwärtsgewandte. Selbst im Alltag, in der Kleinleutewelt von heute, scheint gelegentlich etwas nicht mehr zu funktionieren.

Um die Einzelhändler zu unterstützen, sucht man seine Bedürfnisse im Geschäft vor Ort und nicht im Internet zu befriedigen. Wenn aber ein Produkt im Netz sofort bestellbar ist, beim Händler aber nur mit anderthalbwöchiger Wartezeit, wo wird dann der geneigte „Verbraucher“ kaufen?

Wenn die Paketdienste ihre Lieferungen darauf beschränken, Zustellgut in der Nachbarschaft abzugeben, statt beim eigentlichen Empfänger, obwohl der ganztägig zu Hause ist, dann stimmt was Grundsätzliches nicht mehr. Dienstleistung kommt von „Dienen“ und von „Leistung“. Wer aber je mit „outgesourcten“ Bereichen zu tun hatte, weiß, dass es nicht besser wird, wenn man es unter Wert erstrebt. Es gibt Firmen, die gern die Zahlungen ihrer Kunden entgegennehmen, mit der Dienstleistung aber eher sparsam umgehen, vorsichtig gesagt.

Wenn in zunehmendem Maße Medikamente zur Mangelware und mittlerweile fast unterm Ladentisch gehandelt werden, dann hat diese Gesellschaft ein Problem. Und zwar ein sich Verstärkendes.

Wenn meine Tageszeitung, die einzig übriggebliebene, die nicht vollständig zur Boulevardzeitung mutiert ist, immer mehr ganzseitige Werbung druckt, statt journalistisch hintergründig recherchierte Texte, dann habe ich keine andere Wahl, als aufzupassen, dass mir das Blatt überhaupt zugestellt wird. Am Briefkasten hängt schließlich ein Schild mit der Aufschrift „Keine Werbung einwerfen!“.

Wenn man auf sein mühsam Erspartes kaum oder gar keine Zinsen bekommt, ja mittlerweile gar die Zahlung von „Verwahrgeldern“ erwogen wird, dann haben wir einen Punkt erreicht, wo klar wird, dass dieses gesellschaftliche Konstrukt, dass das ganze System nicht für die Mehrheit der Menschen da zu sein scheint. Einige wenige verdienen sich die sprichwörtliche goldene Nase, die schweigende Mehrheit blökt auf der Weide und ist mit den Brosamen zufrieden, die man ihnen lässt.

Vieles von dem, was wir heute kaufen, ist das Produkt von Arbeit in Fernen Osten. Hier bilden nur wenige Firmen eine Ausnahme und dabei ist meist egal, ob es sich um Billigmarken oder „große“ handelt. Kleidung, technische Geräte, Alltagsgegenstände, wir fertigen kaum etwas im eigenen Land. Ausnahmen gibt es, aber sie sind eher nicht die Regel. Unser Wohlstand ist auf der Ausbeutung von Menschen gebaut, die wir weder kennen oder sehen. Deshalb berühren sie uns auch kaum.

Der Diebstahl von Augusts „Klunkern“ im Dresdener Grünen Gewölbe ist ein Beispiel für mehrfaches Versagen. Einerseits waren die unbewaffneten Bewacher nicht in der Lage einzugreifen, und schauten sich den Vorgang auf Bildschirmen an. Das wirkt, als ob die Olsenbande wieder mal einen Plan verwirklicht hat, und wirft ein bezeichnendes Licht auf unsere „Sicherheitsorgane“, die uns Glauben machen, sie hätten es im Griff. Andererseits wird uns vom sächsischen Ministerpräsidenten eingeredet, wir alle wären bestohlen worden. Mir ist nicht bekannt, dass wir Eigentumsrechte an den Dingen in staatlichen Museen hätten. Und mir ist ebenfalls nicht bewusst, dass das Volkseigentum wieder eingeführt wurde. Es gibt kein „uns“ oder „wir“ in dieser Angelegenheit. Versagt haben die Behörden, welche Sicherheit nach Preis gekauft haben.

Vor mehr als dreißig Jahren war schon mal eine marode Gesellschaft an ihrem Ende angelangt. Damals kehrten viele ihr den Rücken und verließen das Land. Es sind jene, die heute als „Helden“ der friedlichen Revolution gefeiert werden. Sie hatten kaum politische Anliegen und waren auf persönlichen Wohlstand aus. Die Hiergebliebenen, diejenigen, welche weiter täglich ihrer Arbeit nachgingen, finden leider kaum Erwähnung. Nach dem als Wiedervereinigung verbrämten Anschluss an die alte Bundesrepublik hat sich für die Hiergebliebenen fast alles geändert, aber nur einiges verbessert. Viele verlangten echte Demokratie und bekamen stattdessen deren Illusion.

Nun sind wir wieder an einem Punkt, an dem sich vieles ändern muss, wenn wir das, was als „unseren Wohlstand“ bezeichnen, halbwegs behalten wollen. Auch jetzt ist abzusehen, dass die Zukunft ohne Einschnitte nicht zu haben sein wird. Gesellschaftliche Alternativen zum bestehenden System des Kapitals gibt es. Es muss sie geben, weil Wachstum in einer begrenzten Umwelt endlich ist. Eine Gesellschaft, die alles unter das Primat des Geldes stellt, alles zur Ware macht, letztlich selbst Kriege nicht scheut und in der der Mensch immer weniger eine Rolle spielt, ist nicht zukunftsfähig.

Die bittere Erkenntnis aus den letzten Jahrzehnten ist, dass mein Staatsbürgerkundelehrer leider Recht hatte, als er den Kapitalismus beschrieb, denn genauso ist er: gierig, menschenfeindlich und letztlich tödlich.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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