Aus einem Schauspielerleben

Befragt In dem Interview-Band „Becker ungeschminkt“ gibt der Cottbuser Mime Michael Becker Auskunft über sein Leben, zu Werdegang, Liebe, Kunst und Politik

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Wie man die Welt als Kind erlebt, prägt einen Menschen stark. Was hat Dich geprägt?

Mich hat vor allem die Bodenständigkeit geprägt. Meine Eltern haben mir nie einen Vortrag über Pünktlichkeit gehalten oder darüber, dass die Arbeit zum Leben gehört, Arbeit wurde nie thematisiert. Es war selbstverständlich, arbeiten zu gehen. Mein Vater fuhr früh um fünf los und kam abends um fünf zurück, sommers wie winters. Mutter arbeitete über fünfzig Jahre ohne Unterbrechung, teilweise im Schichtdienst im Gesundheitswesen. Ich begriff früh, dass es nicht Lebensinhalt sein kann, sich zu amüsieren, Traumschiffreisen oder Besitztümer anzustreben, dass Glück Familie heißt, Freunde haben, Essen haben, einen guten Beruf, eine Wohnung, gesund sein und nicht nur für sich, sondern auch für andere nützlich. Bei meinen Eltern traf man sich zur Unterhaltung und zum Feiern. Neid habe ich zu Hause nicht kennengelernt. Für viele heute gehört Reisen und andere Länder kennenlernen zum Lebensinhalt. Sind sie dadurch zu größeren Freunden anderer Menschen in anderen Ländern geworden? Hass und Neid werden größer, der Nationalismus blüht, Fundamentalismus verdirbt das Ansehen jeder Religion, die Zahl der Kriege und der damit verbundenen Opfer, die Zahl der Flüchtlinge und im Mittelmeer Ersaufenden nimmt zu. Das Reisen hat nicht zur Völkerverständigung beigetragen, leider. Ewig unzufriedene Leute hier gehen mir auf den Wecker angesichts des wachsenden Elends in der Welt. Wir lebten in Bescheidenheit und waren zufrieden mit dem, was wir hatten. Ein Asylant aus Afghanistan sagte mal: „Was wollt ihr Deutschen denn? Ihr habt doch Wasser.“

Kannst Du dich noch an Deine erste große Rolle erinnern?

Ja, das kann ich. Meine erste große Rolle war eine kleine. Im Dresdner Großen Haus lief „Minna von Barnhelm“. Ich hatte als junger Schauspielstudent die Ehre, den Feldjäger zu spielen, eine Übernahme. Eine Übernahme ist, wenn man für einen erkrankten Kollegen dessen Rolle kurzfristig übernimmt, für ihn einspringt. Das sollte mein erster großer Auftritt in diesem ehrwürdigen Theater werden und das wurde er auch. Der Regisseur Klaus Dieter Kirst probierte diesen Auftritt mit mir auf der Probebühne. „Sie treten auf, machen eine zackige Grußerweisung, Sie salutieren, Sie nehmen aus der linken Stulpe Ihrer Uniform den Brief und übergeben ihn an Tellheim.“

Am Abend der Vorstellung saßen alle meine Mitstudenten im Publikum, ohnehin war der Zuschauerraum in Dresden damals immer ausverkauft. Ich stampfte in meiner Garderobe und übte das Salutieren. Ich war wahnsinnig aufgeregt. Letzter Blick in den Garderobenspiegel. Ich sah fantastisch aus, Uniform, Dreispitz, ein wunderschöner Feldjäger. Durchruf vom Lautsprecher. „Herr Becker, bitte zur Bühne!“

Ich stapfte los. Auftritt, Grußerweisung. Ich salutierte, setzte den Dreispitz ab, stampfte drei Mal, fingerte den Brief aus der Stulpe des linken Ärmels und hielt ihn Tellheim unter die Nase. Ich hatte aber keinen Brief in der Hand, spielte sozusagen mit Luft, beziehungsweise mit vorgestelltem Gegenstand. Tellheim erstarrte. Alle Anwesenden blickten mich an, erstarrten ebenfalls. Der Brief, der Brief, wo war der Brief? Ich hatte alles richtig gemacht. Nur hatte ich vergessen, den betreffenden Brief, der auf dem Requisitentisch lag, abzuholen und ihn mir in die Stulpe zu stecken. Das hatte man mir nicht gesagt. Woher sollte ich denn das auch wissen …?

Die Zeit schien still zu stehen, die Welt hielt den Atem an. Nacheinander gingen Tellheim, Minna, Franziska und Just von der Bühne ab. Ich stand da, machte das verabredete Salutieren für mich alleine und ging völlig verdattert ab. Hinter der Bühne Riesengelächter. Alle stürzten zum Requisitentisch und holten den Brief. Die Darsteller traten wieder auf, die Geschichte nahm ihren gewohnten Lauf.

Ich hatte meinen allerersten großen Theaterauftritt versaut. War das mein Ende als Schauspieler? Nein! Das ganze Theater lachte über den Briefträger ohne Brief. Ich war über Nacht „berühmt“ geworden. Der Darsteller des Tellheim, Joachim Zschocke, erzählte die Anekdote später sogar im Fernsehen. Ich hatte Angst, dass nun die ganze Welt über mich lacht. Aber ich bekam sofort eine weitere kleine Rolle beim Regisseur des Stücks. Man glaubte, ich sei eine ganz ausgekochte Nudel. Dabei war ich einfach nur ein kleiner unwissender, verunglückter Feldjäger.

Michael Becker, Matthias Stark „Becker ungeschminkt“, SEW-Verlag Dresden, ISBN 9783936203325

Buchpräsentation am 26. Oktober 2018, 19 Uhr beim „4. Stolpener LesePodium“ im Rats- und Bürgersaal des „Alten Amtsgerichts“ in Stolpen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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