Christstollen

Dezembertage Eine Kindheitserinnerung

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Der Schnee türmte sich beidseits des Gehweges zu kleinen Gebirgen. Dazwischen ein sandbestreuter Streifen, der den Fußgängern zu laufen gestattete. Dieser Sand aber hinderte unseren Schlitten am Vorwärtskommen. Oma und Mutter zogen das Gefährt gemeinsam, ich lief mit meinen Kinderbeinchen, mehr stolpernd und rennend, hinterher. Unser Ziel war die Bäckerei.

Auf dem Schlitten befanden sich die fertig geformten Christstollen. Aus einem Westpaket, das vor wenigen Tagen von der Post geholt worden war, stammten die Rosinen, die Mandeln und das Zitronat. Solche Pakete umgab ein magischer Glanz zu jener Zeit. Es roch beim Auspacken nach „Westen“, nach Kakao und Milka-Schokolade. Ich sehe noch das blaue Stempelzeichen auf dem Paketaufkleber. Es war der Hinweis darauf, dass dieses Paket geöffnet und von den unsichtbaren Sicherheitsmenschen des Landes auf alle eventuell vorhanden sein könnenden staatsfeindlichen Inhalte hin überprüft worden war. Die Rosinen samt den anderen Backzutaten wurden nicht als Feinde des Sozialismus eingestuft und durften die Grenze passieren. So gelangten sie in unseren Stollen. Gemeinsam mit dem Mehl aus dem Osten und so manch anderer Zutat wurden sie zu dem, was wir nun mit dem Schlitten in die Backstube beförderten.

In jenen Tagen war es bei uns noch Usus, den Christstollen selbst zusammen zu rühren. Das hatte Gründe. Großmutter wusste genau, was reingehörte und was nicht und vor allem, wie viel von jeder Zutat. Die Anzahl der Rosinen und Mandeln in den fertig zu erwerbenden Backwerken war in jenen Tagen eher überschaubar. Der Teig überwog massemäßig das eigentlich Gehaltvolle oftmals bei weitem. Und so wurde aus Ost- und Westzutaten bei uns ein eigener Stollen fabriziert, der nun auf dem Weg war, in der Backstube fertiggebacken zu werden. Übrigens vertrugen sich die Backzutaten, aus beiden politischen Lagern stammend, in unserem Stollen hervorragend, von Klassenkämpfen war nichts zu bemerken.

Man ging mit dem Privatanliegen nicht vorn die Treppe rauf in den Bäckerladen, sondern hinten herum direkt in die Werkstatt des Meisters. Der Steppke, der ich war, trug eine Pudelmütze mit einer Bommel oben dran. Diese Mütze verdeckte die Ohren und hatte links und rechts Wollfäden zum Zusammenbinden, die ihrerseits am Ende wieder eine Bommel trugen. Diese Mütze musste ich mir eiligst vom Kopf reißen, als wir die Backstube betraten. Ich hatte das Gefühl, in der Hölle angekommen zu sein.

Wir übergaben dem Meister unsere mit Leinentüchern abgedeckten, fertig geformten Stollen. In jedem steckte ein Alublech in Form eines kleinen Wegweisers mit Omas Namen. Es sollte nicht zu Verwechslungen kommen, immerhin ließen sich viele Familien ihre Festtagsgebäcke hier ausbacken. Jahrsüber dienten mir die Namensschilder als Spielzeuge, die ich mir heimlich aus Großmutters Besteckkasten mauste und sie mal als Dies und mal als Das missbrauchte.

Unsere Stollen wanderten mit vielen anderen in ein Monstrum von Backofen. Vielleicht kam mir das Ausmaß auch nur so vor, weil ich, gemessen an diesem Ofen, noch ein Zwerglein war. Abholen sollten wir das fertig Gebackene dann am nächsten Tag. Auf dem Rückweg durfte ich auf dem Schlitten Platz nehmen. Großmutter und Mutter waren meine Kutschpferde und zogen mich über den Schnee. Es war schon dämmrig und die Kristalle in der Luft funkelten im Licht der Straßenlaternen. Unser Hauch gefror unter der Nase, Schneeflocken fielen und legten ihren Zauber sanft auf Mütze, Schal und Handschuhe. Morgen würden wir wieder hier sein und die fertigen Stollen abholen. In der Kindheit ist jeder Tag voller Lust.

Wenn ich heute in meiner Heimatstadt an jener Stelle vorüberfahre, sehe ich noch immer den Jungen von damals auf dem Schlitten sitzen. Die Bäckerei ist längst geschlossen. Man dürfte mit Sicherheit auch nicht mehr einfach so die Backstube betreten, weil es Hygienevorschriften verhindern würden. Und Großmutter fertigt ihre Christstollen schon lange in einer anderen Welt an. Schnee fällt vor den Festtagen immer seltener, vorweihnachtlicher Winter ist frühlingshafter Adventszeit gewichen.

Geblieben ist die Erinnerung an Tage ohne Überfluss, in denen das Kleine groß und die Welt überschaubar war. Glück war damals schon das nächste Bild im Adventskalender und die Freude auf die Weihnachtstage, wenn der Stollen dann angeschnitten und von allen gelobt wurde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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