Der gespaltene Mensch

Moralischer Dualismus Über ein Grundproblem unserer Spezies

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Kürzlich las ich das „Manifest des evolutionären Humanismus“ von Michael Schmidt-Salomon(1). Schon der Untertitel „Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur“ macht deutlich, dass dies ein hochaktuelles Buch ist und es auf sehr lange Sicht auch bleiben wird. Aber ganz anders als so manche „Leitkultur“, die sich seit einiger Zeit breitzumachen versucht, ist die des evolutionären Humanismus frei von angestaubtem Nationalismus, frei von religiösen, weltanschaulichen und politischen Dogmen. Dieses Manifest ist nicht moralisierend sondern bietet eine ethische Weltsicht, die sich ganz klar auf drei Pfeiler stützt. So ist eine der Kernaussagen auch relativ einfach und doch sehr weise. „Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion.“ Beim Lesen des Buches hatte ich das Gefühl, dass ein Fenster aufgestoßen wird und nach all dem, was sich im Lauf von Jahrhunderten an weltanschaulichem Mief angesammelt hat, mal jemand richtig durchlüftet. Es ist geradezu befreiend, sich auf den evolutionären Humanismus einzulassen, ihn als eine gültige Weltsicht anzuerkennen.

Ein Gedanke beschäftigt mich auch weit nach der Lektüre noch. Es ist der des im Buch angesprochenen Problems des „moralischen Dualismus“. Der Autor schreibt über ihn mit den Worten „Empathie und Grausamkeit sind oftmals auf unheilvolle Weise verknüpft.“ Menschen können gegenüber den Angehörigen der „eigenen Gruppe“, also z.B. der Familie, der Partei oder der eigenen Ethnie hochempathisch sein, zur Liebe fähig, hilfs- und opferbereit bis zur Selbstaufgabe. Gleichzeitig aber können dieselben Menschen gegenüber den „Anderen“, den außerhalb der eigenen Gruppe stehenden, zur wahren Bestie werden, Feindseligkeit empfinden und schlimmstenfalls töten. Dieses Verhalten ist sicher für die Spezies Mensch archetypisch, es ist leider ein Grundmuster unseres Verhaltens und damit vermutlich eine der großen Ursachen für all das Leid, die Unmenschlichkeit und den Hass weltweit und über Zeiten hinweg. Kriege werden wegen dieses Dualismus geführt. Denn würde der Soldat im Feind auch den Menschen sehen, sollte er nicht mehr schießen können!

Diesen Dualismus erstens zu erkennen und zweitens zu überwinden, ist die Aufgabe der heute lebenden Generation. Nur wenn dieses Prinzip überwunden werden kann, hat das Tier „Mensch“ auf diesem Planeten überhaupt die Chance zu einer Zukunft. Deshalb ist eines wichtigen (An)-Gebote des evolutionären Humanismus auch die Aussage „Verhalte dich fair gegenüber deinem Nächsten und deinem Fernsten.“ Das ist etwas fundamental anderes als das christliche „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Es geht eben nicht darum, nur den Nahestehenden zu respektieren und zu achten, sondern um einen umfassenden Respekt gegenüber allen Menschen, unabhängig von ihrer weltanschaulichen Ansicht oder ethnischen Herkunft.

Leider fürchte ich, dass es eine sehr lange Zeit brauchen wird, um den moralischen Dualismus zu überwinden. Er beginnt im Sportverein, der die andere Mannschaft als Gegner ansieht und endet beim Feind, den es im Krieg zu bekämpfen gilt. Selbst in unserer parlamentarischen Demokratie wird vom politischen Gegner gefaselt, wo es sich augenscheinlich nur um Mitmenschen mit anderen Ansichten, anderem Wollen und anderen Zielen handelt. Wir sind leider noch meilenweit entfernt, den Nächsten und Fernsten fair zu behandeln. Umso wichtiger ist es deshalb, über das Prinzip des moralischen Dualismus zu sprechen, aufzuklären und darüber letztlich Einvernehmen zu erzielen.

Erst die Überwindung des moralischen Dualismus wird den Menschen endgültig aus dem Tierreich erheben. Dann wird es keine Rudel und keine Territorien mehr geben, die es zu verteidigen gilt. Das wäre dann eine wahrlich positive Aussicht auf unsere Zukunft.

Allen Rettern des Abendlandes sei ein Nachdenken über den moralischen Dualismus oder gleich die Lektüre des ganzen Buches sehr anempfohlen, soweit es ihnen möglich ist, zu denken und zu lesen.

(1) Michael Schmidt-Salomon „Manifest des evolutionären Humanismus“, Alibri-Verlag 2006, ISBN 978-3865690111

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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