Die Zeichensetzer

Zeitphänomen Was wäre, wenn eine große Mehrheit statt gegen, konsequent für eine humane Gesellschaftsordnung einträte und damit einer alten Utopie zur Realität verhülfe?

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Anstatt solidarisch mit ihnen zu sein, wird Abschottung und Abschiebung verlangt
Anstatt solidarisch mit ihnen zu sein, wird Abschottung und Abschiebung verlangt

Foto: Matt Cardy/Getty Images

Allüberall stößt man auf Leute, denen es wichtig ist, „ein Zeichen zu setzen“. In aller Regel werden diese Zeichen gegen etwas gesetzt: gegen Rechts oder Links, gegen Massentierhaltung, gegen den Wolf, gegen Intoleranz, gegen Lohnkürzungen, gegen sexuelle Belästigung … die Liste ließe sich beliebig verlängern. Wir leben im Wahn der Gegensätzlichkeit. „Dagegen sein“ steht für persönliches Engagement und politisch bewusstes Handeln, glauben einige Zeitgenossen zumindest.

Würden sich die gesetzten Zeichen materiell manifestieren und zu realen Gegenständen werden, wir kämen auf den Straßen kaum noch voran im Zeichenwald. So aber bleiben sie im Virtuellen und erzeugen bei ihren Schöpfern das Gefühl, etwas getan zu haben. Am Rande jeder Demo wird es immer jemanden geben, der behauptet, mit seiner Anwesenheit „ein Zeichen setzen zu wollen“. Das beruhigt das Gewissen, man hat sich engagiert, seiner Empörung Luft verschafft, mehr ist nicht zu verlangen.

Es ist ja prinzipiell gut, wenn Menschen etwas deutlich zu machen versuchen und ihre Haltung zu den Dingen dieser Welt öffentlich zeigen. Trotzdem unterliegt möglicherweise einem Irrtum, wer „ein Zeichen setzen“ mit „etwas tun“ verwechselt. Nur in seltenen Fällen bewirkt die meist auf Straßen und Plätzen durchgeführte „Zeichensetzung“ eine Änderung an den Zuständen. Und wenn, dann sind es wohl stets, im Nachhinein betrachtet, mindestens kleine Revolutionen gewesen. Ansonsten bewirken die gesetzten Zeichen meist gar nichts, außer einem müden Lächeln bei denen, die glauben, die (politische) Macht zu haben.

Kürzlich las ich davon, dass die Menschen in Deutschland die Geflüchteten aus aller Herren Länder nicht als Angehörige ihrer eigenen (unterdrückten) Klasse ansehen. Anstatt solidarisch mit ihnen zu sein, wird Abschottung und Abschiebung verlangt. Eigentlich ist diese Sichtweise eine zynische Verdrehung der Wirklichkeit. Wird doch den Leuten seit Jahr und Tag gepredigt, Konkurrenzkampf bringe die Leistung voran, Wettbewerb sei das Maß der Dinge und das Stärkere setze sich eben durch. Und glaubt das die Mehrheit dann, wird ihnen falsches Denken vorgeworfen. Offenbar aber sind Konkurrenz und Solidarität schwer unter einen Hut zu bringen.

In unserer neoliberalen Gesellschaft ist dem Einzelnen kaum sein Egoismus vorzuhalten. Er ist zur gängigen Ideologie geworden, fast jeder glaubt, dass Geld die Welt regiert. Davon abweichende Weltanschauungen werden mindestens utopisch belächelt, wenn nicht gar als weltfremd verhöhnt.

Die Frage ist, wie eine Weltordnung funktionieren könnte, die eine weitgehende Mehrheit der Menschen als human und gerecht empfinden würde, wenn sich nicht mal die Einwohner einer mittleren Kleinstadt auf irgendetwas einigen, ohne sich in die Haare zu kriegen. Ist es schon schwer, innerhalb von Familien an einem Strang zu ziehen, so muss letztlich jeder Versuch einer gerechten Weltordnung zum Scheitern verurteilt sein.

Wie aber wäre es, wenn ich mit diesen bisher geschriebenen Worten Unrecht hätte?

Was wäre, wenn man sich doch auf Solidarität, Menschlichkeit und Empathie einigte? Wenn der Egoismus und das unbedingte Gewinnstreben nicht mehr Maß der Dinge wären? Wenn eine große Mehrheit, statt gegen, konsequent für eine humane Gesellschaftsordnung einträte und damit einer alten Utopie zur Realität verhülfe?

Was wäre, wenn?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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