Ein ganz gewöhnlicher Abend

Draußensein Wenn die Natur ihr Buch aufschlägt

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Eingebetteter MedieninhaltJunge Marderhunde und junge Dachse am Bau

„Fahren wir heute noch raus?“ Diese Frage stellte meine Frau, als ich nach Hause kam. Ja, die langen Abende im Juni sind wie dafür gemacht, abends noch mal rauszugehen und den Fernseher uneingeschaltet zu lassen.

Wir fuhren los. Ein gewöhnlicher Juniabend. Schon von weitem waren die Holunderbüsche zu sehen. Sie standen in voller Blüte und verströmten den Duft aus den Märchen der Kinderzeit. Im Dunkel der Büsche sollen ja Geister hausen und der baltische Erdgott Puschkaitis wohnt angeblich dort. Er lässt sich nur zur warmen Mittagszeit sehen, niemals abends. Wer auf ihn trifft, sollte ihm Brot und Bier opfern. Oder trifft auf ihn nur, wer in der Mittagssonne selbst Bier trank?

Die Sternmiere blühte, einzelne Vergissmeinnicht tupften Bläue ins Grün und die Ähren der Getreidefelder wogten, Wellen gingen sanft durch die Halme. Die Sonne umarmte alles mit warmem Licht. Die Lerchen sangen in der Höhe, unsichtbar kamen ihre Stimmchen vom Himmel herab.

Unser „Revier“ liegt nicht weit vor der Stadt. Es gibt hier keine Wanderwege, eigentlich gibt es überhaupt keine richtigen Wege und deshalb verirren sich auch die Menschen nicht oft hierher. Ein Tal, dem an der Grenze zum Wald ein kleines Bächlein entspringt, zusammengeflossenes Wasser aus den Feldern. Wir gingen durch die mannshohen Gräser, es roch nach Kindheitssommer, Spuren von Freiheit waren dem Duft beigemischt. Und obwohl wir der Stadt so nah waren, hörten wir kaum menschliche Geräusche, es schien alles entrückt und fern zu sein.

In der Waldinsel, unter Brombeersträuchern und Dornen, flog ein Vogel auf, als wir uns näherten. Nur wenige Schritte von uns entfernt ergriff er die Flucht. Bei meiner Frau erregte das die Neugier. Vorsichtig schoben wir die Blätter beiseite. Auf dem Waldboden war das Nest eines Bodenbrüters zu erkennen. Vier grau-blaue Eier lagen darin. Die Henne war also, durch uns aufgeschreckt, kurz aufgeflogen. Leider hatten wir nicht erkannt, um welches Vögelchen es sich handelte. Wir verdeckten das Gelege wieder mit den Blättern und beschlossen, das Nest im Auge zu behalten. Bei den Besuchen in den nächsten Tagen schlüpften dann vier Winzlinge, die sich als kleine Goldammern zu erkennen gaben. Vollkommen ungeschützt war dieses Gelege auf dem Waldboden sämtlichen Räubern ausgesetzt und doch schaffen es die Ammern, ihre Jungen flügge zu bekommen.

Ein roter Milan zeigte uns seine Flugkünste. Mit Leichtigkeit, mit Eleganz, ja mit Würde überflog er ein von den Bauern gemähtes Stück Wiese, immer Ausschau haltend nach Mäusen. Tanzend fast ist sein Flug, mit seinem Schwanz steuert er durch den Abendhimmel.

In den Wiesen entdeckten wir zwei, drei Rehe. Sie ästen ungestört in einiger Entfernung. Bei der geringsten Störung würden sie sich sofort trollen.

Wir suchten mit dem Fernglas den Waldrand ab. Seit unsere Wildtierkamera am alten Dachsbau erstmals junge Marderhunde und junge Dachse eingefangen hat, hoffen wir immer, diese Tiere auch mal auf den Feldern zu sehen, bisher vergeblich. Nur einmal hatten wir direkt am Bau Glück. Gerade war die Speicherkarte der Kamera gewechselt und wir wollten uns schon wieder entfernen, da kam ein vorwitziger und besonders neugieriger, junger Marderhund aus dem Bau, schaute sich um und spielte völlig ungestört, bevor noch zwei seiner Geschwister ebenfalls heraus kamen. Wir standen erstarrt und bewegungslos. Zwei, drei Meter von uns entfernst spielten die Jungtiere und ließen sich von unserer Anwesenheit in keiner Weise stören. Ich war in einer Haltung stehengeblieben, die schon nicht mehr Hocken, aber auch noch nicht als Stehen bezeichnet werden kann. Würde ich mich jetzt bewegen, wäre die Begegnung zu Ende. Also verharrte ich in einer Stellung, die man auch als unangenehm beschreiben könnte. Eines der Tierkinder schaute mir direkt in die Augen, ohne Angst, nur mit kindlicher Neugier und Unbekümmertheit, die auch uns Menschen in jungen Jahren eigen ist, und die wir leider ablegen, wenn wir glauben, verständig geworden zu sein.

Ein Fuchs kam über die Wiese geschnürt. Er war rot-grau gefärbt, ein gesundes und kräftiges Tier. Er lief ohne Eile über die Wiese, verschwand kurz im Getreidefeld, um dann direkt auf uns zuzulaufen. Ein Tier wie aus Brehms Büchern entsprungen. Ohne jede Eile, behände und gewandt lief er schnurgerade auf uns zu, um dann endgültig zwischen den Getreidehalmen unterzutauchen.

Die weiter dem Horizont zustrebende Sonne schien mit jeder Minute mehr warmes Licht über die Landschaft auszugießen. Die Stille, durch die nur ein leiser Wind strich, die Wärme des vergehenden Tages und die Tiere, die hier scheinbar friedlich aus ihren Tageseinständen und Deckungen heraustraten, ließen uns glauben, dass so ein irdisches Paradies aussehen könnte.

Wir setzten uns nieder, unter eine Eiche, deren Äste mit dem Grün unserer Kleidung verschmolz. So waren wir von weitem kaum erkennbar und harrten noch ein wenig aus. Unsere Geduld wurde belohnt. Ein Hase kam, ohne jede Eile, die Furche im Feld als Weg nutzend, und näherte sich uns bis auf ein paar Meter. Er witterte uns nicht und hielt ab und an inne, um zu prüfen, ob Gefahr in der Luft läge. Meister Lampe hatte es nicht eilig, er setzte sich, prüfte, hoppelte weiter, prüfte wieder und schließlich war er so nah bei uns, dass wir ihm schon fast in die Augen sehen konnten. Die Unbekümmertheit des Tieres passte zu diesem stillen Abend. Es war ein friedliches Ende eines Frühsommertages, der ein Versprechen auf einen langen Sommer abgab. Die kleinen Federwölkchen hatten sich verzogen und der Himmel stand tiefblau über dem Grün, das frisch herangereift war. In einem der nahen Wäldchen, die als Inseln zwischen den Feldern und Wiesen hingeworfen scheinen, rief ein Buntspecht nach seinen Kindern, die aus voller Kehle Laut gaben aus ihrer Kinderstube in der morschen Birke. Nicht mehr lange, und die Jungspechte werden ausfliegen, flügge sein und ihr Leben bemeistern.

Wir atmeten tief ein, so als könnten wir mit unserem Atem auch ein wenig von dem Zauber dieses Abends in uns aufnehmen. Er wird uns als Erinnerung bleiben, wie schon so viele Abende vor ihm. Er wird das Gefäß füllen, in dem sich unsere Erlebnisse sammeln, die unser Leben ausmachen werden am Ende der Zeit.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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