Haltet ein!

Stundenweise nachdenken Über die Zeit und die Zeiten

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Bald ist es wieder soweit. Europaweit wird von Sommer- auf Winterzeit umgestellt. Der Vorgang sollte ursprünglich einmal durch die effektivere Ausnutzung des Tageslichtes Energie sparen helfen. Das hat sich aber leider als Irrtum erwiesen. Trotzdem halten wir an dem unsinnigen Vorgang zweimal im Jahr fest. Offenbar haben wir es hier mit einem schönen Beispiel dafür zu tun, dass Gesellschaften bei nachweislich ineffizientem oder gar falschem Tun bleiben und nicht gewillt sind, dazu zu lernen, obwohl die einzelnen Individuen sehr wohl einsehen, dass manches Unfug ist.

Nun, wie wäre es, wenn wir die Sommerzeit zur Mitteleuropäischen Normalzeit erklärten und es dabei beließen. Wir hätten lange Sommerabende wie gewohnt und die dunklen Stunden am Morgen und im Winter sind ohnehin finster. Das wäre pragmatisch! Ich fürchte nur, wir werden auf diese europaweite Harmonisierung noch sehr lange warten dürfen, wenn sie überhaupt je stattfindet. Sinnloses Tun als sinnlos erkennen, setzt ein Mindestmaß an selbstkritischem Denken voraus. Und das ist bei den meisten Entscheidungsträgern, vorsichtig gesagt, nicht stark ausgeprägt. Derzeit haben Politiker ohnehin Wichtigeres zu tun, als sich um die banale Frage der Uhrzeit zu kümmern. Es gibt ja bekanntlich viel größere und wichtigere Probleme als die Sommerzeit.

Wäre es da nicht angebracht, die nächste Zeitumstellung, die uns ja eine zusätzliche Stunde bescheren wird, zu nutzen, um, sagen wir, nachzudenken? Nachzudenken beispielsweise darüber, ob wir als selbst ernannte „Krone der Schöpfung“ den uns anvertrauten Planeten mit all seinen Pflanzen, Tieren und Rohstoffen sorgsam genug behandeln? Oder ob es vernünftig ist, sich im Namen von selbst angeschafften Religionen gegenseitig die Schädel einzuschlagen, während dessen sich das Klima erwärmt, die Ressourcen aufgebraucht werden und jährlich weit über 50000 Tierarten von der Erde verschwinden? Nachdenken darüber, ob es vernünftig sein kann, in einer Welt, die durch Verkehrsmittel und Informationstechnologien zum „globalen Dorf“ wird, auf nationale Lösungen zu setzten, wenn doch die Probleme in zunehmendem Maße den Globus als Ganzes betreffen? Oder ob es klug ist, auf beständiges wirtschaftliches Wachstum zu bauen, wenn doch die Schatzkammer Erde begrenzt ist und dieses Wachstum auf Ausbeutung und Raubbau beruht? Und ob es nicht vernünftigere Wirtschaftsformen geben kann, als die gegenwärtige, in der Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden?

Was wäre, wenn wir bei der Zeitumstellung die Möglichkeit hätten, die Uhren nicht nur eine Stunde zurückzudrehen? Bis zu welchem Datum müssten wir sie zurückstellen, um mit Vernunft und Weisheit noch mal von vorn zu beginnen? Bis vor das Auftauchen der großen Weltreligionen vielleicht, in deren Namen Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten und müssen? In Glaubenskriegen getötet, auf Scheiterhaufen verbrannt oder mit modernsten Waffen ermordet. Würde es ein Gott, ganz gleich welche Religion ihn sich zum Leitbild macht, zulassen, dass in seinem Namen getötet wird? Mit dem Auftauchen von Gottesvorstellungen kam nicht die Liebe in die Welt, wie uns Religionsführer lehren wollen, es kam vor allem anderen der Hass in die Welt und der hält bis heute an. Er manifestiert sich in vielerlei Tun, in Ausgrenzung und Verächtlichmachung Anders- oder Nichtgläubiger und findet seine größte Perversion im Sprengstoffgürtel jener Verirrten, die glauben, dass ihr Gott groß sei. Keine der heutigen Religionen ist frei von Schuld, eine jede hat die Mörderhand schon geküsst.

Oder wäre es gar besser, die Zeit „eine Zeit lang“ ganz anzuhalten, auf das die Menschen zur Vernunft kommen und sich besinnen? Und wie lange bräuchten wir für diese Besinnung?

Nutzen wir also die gewonnene Stunde zum Nachdenken, denn es gibt offensichtlich, um es mit Bertold Brechts „lesendem Arbeiter“ zu sagen „So viele Fragen“ und so wenige Antworten darauf.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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