Herr S. denkt nach

Hitziges Was er zu wissen glaubt und was nicht

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Herr S. liegt faul in der Sonne. Ihm macht die Hitze zu schaffen. Nur ab und zu blinzelt er mal und nimmt einen Schluck seines Kaltgetränkes zu sich. Herr S. grübelt.

Er fragt sich, worin der Unterschied von Wissen und Glauben besteht? Nicht leicht zu beantworten, die Frage. Herr S. denkt dabei nicht an den Pfarrer und seine Kirche nebenan, die ihn beide an jedem Morgen aus dem Schlaf läuten, sondern mehr an die neuzeitlichen, modernen Glaubenslehren. Die zu hinterfragen, ist nicht immer unschwer. Er erinnert sich an Marie von Ebener-Eschenbach. Von ihr las er mal auf einem Kalenderblatt ein Zitat. „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“

Fast täglich verkünden die alten wie neuen Medien Dinge, die Herr S. unhinterfragt glauben soll. Er soll glauben, dass Russland das Böse, Europa die Zukunft und politisch Links Teufelswerk sei. Dabei ist aber nicht nur von den mehr unseligen als vorzüglichen Nachrichten aus aller Welt die Rede. Er soll beispielsweise an die Demokratie glauben. Zweifellos ist das derzeit benutzte System der Herrschaft das bisher beste, welches je in deutschen Landen existierte. Aber ebenso unzweifelhaft hat es mindestens an einigen Stellen Fehler und Grenzen.

Herr S. geht stets brav an die Wahlurne, hat aber leidvoll erfahren, dass sich wenig bis gar nichts zum vermeintlich Guten wendet. Er wird vor Beschlüssen nicht gefragt, hat er doch seine Stimme schon an mehr oder weniger Unbekannte abgegeben. Was die draus machen, darauf hat Herr S. keinen Einfluss mehr. Kaum eine wichtige Frage, die das Leben von Herrn S. mehr oder minder direkt betrifft, ist durch ihn beeinflussbar. Das stimmt ihn nachdenklich. Er wurde nicht gefragt, als man Soldaten zur Verteidigung Deutschland an den Hindukusch schickte. Er wurde auch nicht gefragt, ob er Schießprügel ins Ausland zu liefern gedenkt. Nicht mal gefragt wurde er, als man nach monatelanger Erneuerung seine Straße, aufgrund fehlerhafter Arbeit, schon wieder mit neuem Belag versah. Weil Profis am Werk waren, die sich nach Preis einzukaufen gezwungen sahen. Auf all das hat Herr S. wenig bis keinen Einfluss. Und weil er nicht gefragt wurde, kreuzte Herr S. bei der letzten Wahl nicht mehr an der gleichen Stelle wie bei den vorherigen Malen. Und wählte somit seine Stammpartei nicht. Die erhielt dementsprechend weniger Prozente und sitzt nun doch in der Regierung. Was Herrn S. nachdenklich stimmt.

Herr S. soll auch glauben, dass die Globalisierung von Vorteil ist. Weltweite Warenströme sind ökonomischer als lokale Produktion. Hier hat Herr S. Zweifel. Er versteht nicht, warum sein neuer HD-Fernseher eine Weltreise per Schiff unternahm, um aus dem Fernen Osten zu ihm ins Wohnzimmer zu gelangen, wo doch sein Nachbar, der Mittfünfziger Schraube, der im ganz nahen Osten lebt, seit vier Jahren arbeitslos ist und nichts mehr schraubt.

In seinem neuen TV-Gerät sah Herr S. kürzlich, wie Schweine in modernen Mastanlagen gehalten werden. Da verging ihm der Appetit. Und er wurde aufgefordert, als Verbraucher etwas dagegen zu tun und ab sofort sein Schnitzel bei Kleinbauer Lindenbaum im Nachbardorf zu kaufen. Wenn das alle täten, gäbe es keine Massentierhaltung und gesetzliche Regelungen wären überflüssig. Da dachte sich Herr S. dann, dass es doch vortrefflich wäre, wenn alle langsam und gemächlich mit ihrem Auto führen, jederzeit Rücksicht nähmen und der Straßenverkehr zu einem Springquell der Freundlichkeit würde. Da bräuchte es auch keine Straßenverkehrsordnung mehr.

Möglicherweise ist Herr S. der Hitze wegen nur ein wenig weggeduselt, denn so sind die Menschen ja doch nicht. Ihm fällt ein Bonmot von Goethe ein. „Mit dem Wissen wächst der Zweifel.“

Im Hinübergleiten in den Schlaf der Gerechten denkt Herr S., dass er noch zu wenig weiß und zu viel glaubt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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