Herr S. macht Pause

Betrachtung Über einen Zeitgenossen

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Als ich ihn kennenlernte, hatte er sich gerade mit den Worten „Ich mach jetzt erst mal Pause“ samt einer Flasche Bier auf die Bank hinter seinem Haus niedergesetzt. Wenn eine Holzbank überhaupt ein gewisses Maß an Bequemlichkeit bot, so genoss er diese in vollen Zügen. Er trank die ersten Schlucke und blinzelte in die Sonne. Auf mich machte das den Eindruck, als hätte er das Arbeiten nicht nur nicht erfunden, sondern würde es aus tiefster Überzeugung ablehnen. Sein Motte war: „Gearbeitet ist dann schnell.“

Das von ihm bevorzugte Werkzeug war ein Straßenbesen samt Holzstiel, mit dem er gern, aber bedächtig, den Hof kehrte. Manchmal stellte er sich auch nur an das Gartentor, stützte sich auf das Gerät und gab vor, zu arbeiten. Dazu hatte er sich blaue Latzhosen angezogen, die seine handwerklichen Fähigkeiten und seine Herkunft aus der Arbeiterschaft unterstreichen sollten. Wenn sich jemals jemand als Arbeiter tarnte, dann war es Herr S. in seinem Blaumann. Wie kaum ein anderer konnte er sinnvolle Tätigkeit imitieren.

Eine der hervorstechendsten Eigenschaften von Herrn S. war seine Neugier. Er beobachtete alles, was sich in der Nachbarschaft abspielte, registrierte noch jede Kleinigkeit und wusste somit Bescheid. Über alle Nachbarn beispielsweise, wer seit wann wo wohnt, warum dieser oder jener gerade das tat, was er tat oder auch nicht. Mit einer Fähigkeit ausgestattet, die man in früherer Zeit als Bauernschläue bezeichnete, konnte er Schlüsse aus seinen Beobachtungen ziehen, die wiederum zu Beurteilungen seiner Mitmenschen führten. So reimte er sich sein Bild von der Welt zusammen und gab bereitwillig Auskunft, wenn irgendwer etwas wissen wollte.

Wann immer er das Wort „Pause“ benutzte, eröffnete sich sogleich die Frage, wovon er diese eigentlich machen wollte. Herr S. ging nicht mehr zur Arbeit, war im Vorruhestand angekommen und hatte so jede Menge Zeit zu Recherchen aller Art. Kam bei den Nachbarn ein Handwerker ins Haus, wusste Herr S. natürlich Bescheid, warum. Starb irgendwo ein Mensch, wusste Herr S., woran. Gab es irgendwo einen Unfall, konnte man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Herr S. wusste, wer schuld war.

Ein besonderer Höhepunkt im Leben von Herrn S. war, wenn ein Bauunternehmen an irgendeiner Stelle im Ort ein Loch aushob. Sei es, dass ein Wasserrohr gewechselt werden musste, sei es, dass eine Stromleitung erneuert wurde. Ein Loch in der Erde war dazu angetan, die Neugier von Herrn S. zu wecken. Mit kindlichem Interesse schlich er dann zur Baustelle und schaute zu, wie die Erde ausgehoben und auf einen Haufen geworfen wurde. Nichteingeweihte Beobachter hätten Herrn S. in seinem Blaumann für einen Mitarbeiter der Baggermannschaft halten können. Seine Tarnung war einfach perfekt.

Je tiefer das Loch, umso größer wurde sein Interesse. Herr S. schaute mit Kennerblick ins Erdinnere. Wo andere, insbesondere Laien, nichts weiter als ein schnödes Baggerloch erkannten und sich nicht darum scherten, bot sich ihm, dem Eingeweihten, ein schier unglaublicher Schatz an Geschichten an. Herr S., der Auskenner, wusste Bescheid über die vergrabenen Zu- und Abwasserrohre, Leitungen und Kabel, deren Wege sich im dunklen Erdreich kreuzen. Ganze Halbstunden lang konnte Herr S. so den Erdarbeitern Gesellschaft leisten, Tipps geben und sie davon abhalten, schneller voranzukommen mit ihrem Tun. Das Gespür dafür, wann man selber flüssiger als Wasser ist, nämlich überflüssig, war bei Herrn S. nie stark ausgeprägt.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, wandte sich Herr S. irgendwann abrupt ab und ging in sein Grundstück und zu seiner Bank zurück.

Er hatte vorerst genug gesehen und musste, vom Schauen erschöpft und dem Bierdurst folgend, Pause machen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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