Im Flegelalter

Vergessenheit Haben wir denn nichts aus der deutschen Geschichte gelernt? Über gefährliche Hirnlosigkeit und andere Krankheiten

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Der Schoß ist nicht fruchtbar noch, das hässliche Kind ist längst im Flegelalter
Der Schoß ist nicht fruchtbar noch, das hässliche Kind ist längst im Flegelalter

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Nun hat es diese junge und alternative Partei geschafft, mit scheinbar neuen Ideen frischen Wind in die verstaubte Politiklandschaft zu wehen. Gerade ihr jüngster Vorschlag, kritische Lehrer zu melden, ist ein peinlicher Vorstoß, auf dass endlich wieder Ordnung und die richtige Gesinnung in den Klassenzimmern Einzug hält. Wo kommen wir hin, wenn Lehrer ihre Schüler zu kritischem Denken animieren, sie zu eigensinnigen jungen Menschen erziehen, die vielleicht auch noch ihren Verstand zu benutzen wissen. Ein Volk wie unseres braucht in Zukunft eine Gefolgschaft, welche einer Partei zu gehorchen weiß.

Nun wird es wieder möglich sein, missliebige Personen zu melden, um sie in Listen zu erfassen. Mithilfe dieser Listen ist es leicht, die Spreu vom Weizen, respektive die Treuen von den Untreuen zu trennen. Was mit Letzteren geschehen wird, weiß man zwar noch nicht genau, aber es gibt ja immer Möglichkeiten. Von Orwell lernen, heißt siegen lernen. Es ist erst ein paar Jahrzehnte her, dass man missliebige Menschen, die nicht die richtige Einstellung zu Politik und Staat fanden, der Partei melden konnte. Jetzt geht das wieder.

Aber noch sind wir nicht am Ziel, noch lange nicht. Vorerst dürfen ja nur Lehrer angeschwärzt werden. Was ist mit all den anderen, denen die Freiheit im Denken über alles geht? Was ist mit Künstlern, Musikern und Literaten, die es wagen, kritisch zu hinterfragen, was sich Parteistrategen ausdenken? Was ist mit den Staatsdienern, den Beamten, die eventuell morgens ihren Denkapparat einschalten, um ihn tagsüber gar zu benutzen? Was ist mit Staatsanwälten, Polizei und Militär? Hier ist noch großer Handlungsbedarf.

Aber es ist ja dankenswerterweise möglich, aus der Geschichte zu lernen. Es gab immerhin schon mal Zeiten, in denen Kritik an der Politik unter Strafe stand. Bestimmt schöpft die junge Partei alsbald aus diesem historischen Schatz. Es wäre denkbar, dass sie vorschlägt, wieder Blockwarte einzusetzen. Die könnten dann ganz genau beobachten, wer in den Wohngebieten aufsässige Gedanken hegt. Eventuell gibt es noch irgendwo ein paar verstaubte Handbücher aus dem Hause Mielke, die als Anleitung für Denunzianten und Spitzel dienen könnten. Wir Deutschen haben einen reichhaltigen Fundus, wenn es ums Untertanentum geht.

Bald wird es dann vielleicht auch wieder eine Behörde geben, die sich aktiv um die Feinde im Inneren kümmert. Freies Denken, offener Meinungsaustausch und kritisches Hinterfragen gesellschaftlicher Vorgänge ist doch in den Augen der Partei nur linksversifftes Gutmenschentum. Das hat in einem starken Volk wie dem unseren nichts zu suchen. Wir brauchen kein Hirn, die Partei beweist das fast täglich.

Um es angelehnt an die Worte von Bertold Brecht auszudrücken, ist nicht nur der Schoß noch fruchtbar, aus dem das kroch. Nein, jenes hässliche Kind ist bereits im Flegelalter. Aufgewachsen, ohne das man ihm die Benutzung des Verstandes beibrachte. So ist es blind für vieles, was wir mittlerweile gelernt zu haben glaubten. Aber haben wir das überhaupt?

Haben wir wirklich gelernt, dass Kapitalismus Faschismus gebiert? Haben wir gelernt, dass Nationalismus ein Dünkel ist, der zur Gewalt gegenüber anderen führt? Haben wir verinnerlicht, dass nach Rosa Luxemburg Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist? Hermann Hesse schrieb in seinen späten Jahren, dass es der Größenwahn des Nationalismus war, dem wir den heutigen Zustand der Menschheit verdanken. Dieser Größenwahn ist gerade dabei, den halben Erdball zu erfassen. In Gemeinschaft mit den weltweiten Problemen von Umweltzerstörung, dem Fortschreiten der Klimaveränderung und religiösem Eifer ergibt sich ein sozialer Sprengstoff, dem nur ein winziger Funke fehlt, um zu einer globalen Katastrophe zu führen.

Wir haben offenbar bisher zu wenig aus der Geschichte gelernt, um vernünftig zu handeln. Und mit Recht werden künftige Generationen danach fragen, was wir taten und was wir unterließen, um die Welt ein wenig besser zu machen. Wenn es diese Generation überhaupt je geben wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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