Kranke Vorstellungen

Voll daneben Die Gesundheitswirtschaft als Patient

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Eine Firma produziert Autoreifen. Die Reifen sind begehrt, die Nachfrage wächst, die Kunden sind zufrieden. Weil der Kundenandrang nach einiger Zeit alle Kapazitäten übersteigt, entschließt sich die Firmenleitung, eine Strafgebühr einzuführen. All jene, die Autoreifen kaufen wollen, müssen zunächst eine Gebühr bezahlen, wenn sie Kunde bei besagter Firma werden möchten. Absurd, oder nicht?

Man stelle sich vor, dass ein Restaurant, weil es wohlschmeckende Speisen herzustellen weiß, exquisite Getränke anbietet und der Service erstklassig ist, von seinen potentiellen Gästen zunächst eine Gebühr verlangt, damit der Andrang vor dem Eingang nicht so groß wird. Ebenfalls unvorstellbar und absurd.

Weniger absurd scheint dies den Verantwortlichen in unserem hochgelobten und einmaligen Gesundheitssystem zu sein. Da wird ernsthaft über die Einführung einer Strafgebühr für jene Menschen nachgedacht, die sich erdreisten, Dienste der Notaufnahme im Krankenhaus in Anspruch zu nehmen. Weil die Nachfrage die Möglichkeiten in den Einrichtungen übersteigt, soll mittels einer Strafgebühr reguliert werden. Gehts noch?

Man hat mir vor einigen Jahrzehnten bei der Wiedereinführung kapitalistischer Produktionsverhältnisse beigebracht, dass Nachfrage das Angebot bestimmt, der Kunde König ist und der Markt so ziemlich alles reguliert. Scheint auch absurd zu sein und auf die moderne Krankenwirtschaft nicht zuzutreffen.

Wenn es um die sogenannten „Individuellen Gesundheitsleistungen“ geht, entwickeln Ärzte ein untrügliches Gespür und ihr Geschäftsgeist erwacht. Normalerweise schläft der tief und fest. Nur wenn zusätzliches Geld zu verdienen ist, werden aus Medizinern Handelsmänner, die ihre Waren anzupreisen verstehen. Ansonsten herrscht eher Flaute bei Kundenfreundlichkeit und Bedienung. Wie sonst sind die unmöglichen Bestellsysteme mit ihren ewig langen Wartezeiten zu verstehen? Wie anders lassen sich schnippisches und unfreundliches Personal in stationären oder ambulanten Gesundheitseinrichtungen erklären? Ob so manche Schwester ihrem eigenen Ich begegnen möchte, wenn sie mal selbst der medizinischen Dienstleistung bedarf, wäre eine interessante Frage. Trotz Stress und Überlastung durch Personalmangel ist eines sicher: Ein Lächeln und ein freundliches Wort kosten nichts und wirken Wunder.

Schlussendlich dreht sich alles um Dienstleistung. Es ist nicht hinnehmbar, dass jedes Auto- oder Möbelhaus einen besseren, freundlicheren und zeitnäheren Service anbietet, als ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis derzeit zu leisten imstande ist. Es gibt Fälle, in denen Patienten bei geplanten Eingriffen erst mal wieder nach Hause geschickt werden, weil kein Bett frei ist oder ein Notfall dazwischenkommt. In einem wirklich humanen Gesundheitswesen dürften akute Fälle den normalen Geschäftsbetrieb überhaupt nicht beeinflussen, genügend Kapazitäten werden vorgehalten. Dies muss in einem der reichsten Länder dieser Welt möglich sein, ist aber auch nur eine absurde Vorstellung.

Wie soll ein medizinischer Laie nach Androhung besagter Strafgebühr entscheiden? Ist er ein Fall für die Notaufnahme oder doch einer für das stets überfüllte Wartezimmer seines Hausarztes? Diese Frage kann und darf ein kranker Mensch sich nicht stellen müssen.

Erst wenn Mediziner ihr Tun als Dienstleistung begreifen und ihre Patienten als ihre Kunden wertschätzen lernen, wird das angeschlagene System genesen. Geld sollte dabei aus humanen Gründen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Das Gesundheitssystem in Deutschland ist medizinisch und wissenschaftlich sicher auf dem aktuellsten Stand. Würde es organisatorisch und menschlich dieses Niveau erreichen, wäre es fast unschlagbar.

Der Weg dahin ist noch weit.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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