Morgens im Berufsverkehr

Einsichten Eine Alltagsbetrachtung

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Zu viele Autos fahren viel zu langsam auf viel zu engen Straßen. Alltag, wie immer. Seit wir Menschen es besser finden, Arbeits- und Wohnort möglichst weit voneinander zu trennen, ist mancher Kilometer zurückzulegen, ehe wir bereit für unser Tagwerk sind. Wieder steht der Halt an einer Ampel an. Es ist Rot, unnachgiebiges Zeichen zum Stehenbleiben. Das gilt aber nicht für jeden.

Ein Kampfradfahrer ignoriert das Haltegebot. Er gehört zur Sorte jener Radler, die ohne Rücksicht auf Verluste durch den Stadtverkehr jagen. Bekleidet mit einem körberbetonenden Kampfanzug, der ihn wie eine Presswurst auf Rädern aussehen lässt, ignoriert er jeden Fußgänger geflissentlich. Rücksichtnahme war gestern, heute stehen die Zeichen auf Kampf, im Straßengewimmel wie im Leben. Sein Radfahrerschutzhelm unterstützt das kämpferische Aussehen und macht ihn zum Sieger im Wettbewerb um den ersten Platz beim Erreichen des Arbeitgebers.

Aber es ist ein Pyrrhussieg. Nachdem die städtische Verkehrseinrichtung auf Grün umsprang, wurde der Velokrieger überholt, um ihm an der nächsten roten Ampel wieder zu begegnen. Dieses Rot wusste er ebenfalls geflissentlich zu ignorieren. Vorschriften sind nur für die anderen da. So sind Menschen eben, denke ich und fahre weiter.

Drei Kreuzungen später beobachte ich, wie sich ein etwas unschick gekleideter Mitbürger mit Zehntagebart im mittleren Alter an den Abfallbehältern der Straßenbahnhaltestelle zu schaffen macht. Offenbar ein Plasteflaschensammler, der sich fünfundzwanzigcentweise seiner täglichen warmen Mahlzeit nähert. Armes Deutschland, denke ich bei mir. Bevor es im Schritttempo weitergeht, sehe ich den Sammler zwei leere PET-Flaschen aus dem Müll ziehen. Mir fällt spontan mein zur Verfassung erklärtes deutsches Grundgesetz ein. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ja, das ist sie wohl, denke ich bei mir. Ob der Mann da draußen das weiß?

In Bahnhofsnähe haben sich heute wieder die berufsmäßig agierenden Bettler eingestellt. Wöchentlich einmal sitzen auffällig fremdländisch aussehende Menschen auf dem Bürgersteig, um Mitleid zu erregen und Geld einzusammeln. Sie bevölkern die Wartebänke an der Haltestelle oder sitzen auf dem Straßenpflaster. Mit Sicherheit ist auch ihre Würde unantastbar. Die meisten Passanten beachten sie nicht. Ohnehin sind die Menschen mehr mit ihrem Smartphone beschäftigt, haben ihre Musik im Ohr und somit alle Hände voll zu tun, als dass sie auf die Vorgänge der Straße achtgeben könnten. Mir kommt das Bild von den drei Affen in den Sinn. Sie hören nichts, sie sehen nichts, sie sagen nichts, aber sie wissen Bescheid und oft alles besser.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, da war Armut ein Wort aus einer fremden Welt, vergangen, vergessen, gestrig. Da hielten selbst Fahrradfahrer an roten Ampeln, nicht zuletzt deshalb, weil es Streifenpolizisten gab. Heute haben wir Überwundenes nochmals überwunden, das nennt man Fortschritt. Der materielle Wohlstand war damals im Durchschnitt deutlich geringer, aber die geistige Armut und der Egoismus waren es ebenfalls. Und wieder krankt der eine am anderen. Heute weiß ich, was damals mit „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ gemeint war.

Die Ampel schaltet auf Grün. Ich fahre weiter, die Zukunft ist offen. Wir könnten sie umgestalten, nicht zuletzt, weil unsere Würde unantastbar ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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