Reifenwechsel

Vermisst Was fehlt, wenn etwas fehlt

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Es gibt Dinge, die immer wieder getan werden wollen. Als ich vor Jahren zum ersten Mal die Reifenwerkstatt betrat, begrüßte mich der Mann hinterm Tresen mit einer Höflichkeit, die ich so nicht erwartet hätte. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“ Der akkurat geknöpfte Kittel strahlte in sauberem Blau. Der Meister schickte seinen Worten ein Lächeln hinterher, ein ernstgemeintes und ehrliches. „Alle kommen jetzt zum Reifenwechsel, die Zeit ist heran. Der Winter naht, ja er naht.“ Dieser Mann hatte Bildung, das merkte ich sofort. Und er hatte etwas von einem Künstler. Sein Haar war schon grau, fiel lockig bis fast auf die Schulter. Er musste morgens eine gewisse Zeit aufgebracht haben, um diese Haare zu bändigen. Ein Musiker in einer Band könnte dieser Mensch sein, einer Band, die gehaltvolle Rockmusik macht, aber niemals Schlager spielt. „Nehmen Sie Platz, es sind noch drei Kunden vor Ihnen.“ Er wies auf die Sitzmöbel in der Ecke. „Nehmen Sie sich einen Kaffee, der ist frisch gebrüht.“ Ich musterte den Meister unauffällig. Alle Gesichtszüge verrieten Bildung, nicht nur Wissen. Er flocht gern ein außergewöhnliches Wort in seine Rede. So sprach er beispielsweise von Vergnügen, als er Spaß meinte. Er benutzte keine Fremdworte, nur selten gewordene. Und er sprach Dialekt, aber in einer hochanständigen Form. Da war nichts zu spüren vom Durchschnitt der Straße. Alles an dem Mann verriet Anstand, Würde und Charakter.

Hinter seinem Schreibtisch deklamierte er plötzlich. „Nur Heiterkeit und grader Sinn verschafft dir endlichen Gewinn.“ Ich blickte auf. „Das ist von Goethe“, kam es von hinter dem Tisch. „Unsere Politiker sollten mehr die Klassiker lesen, statt die BILD.“ Ich fand, dass dieser Mensch ein Gewinn war.

Dann kam der Frühling und wieder ein Herbst und immer begegnete ich dem freundlichen Werkstattmeister, der aus der Zeit gefallen schien. Er kannte gute Sprüche, zitierte Mark Twain oder Heinrich Heine. Dieser Werkstattmensch war ein Unikum, ein Bildungsbürger im Blaumann, von denen es nicht viele gibt. Eines Tages sagte er, während die Reifen im Werkstattraum gewechselt wurden: „Wir können auf die Politiker schimpfen, wie wir wollen, wir haben die, welche wir verdienen.“ Und ein anders Mal unterhielt er die kleine Schar Wartender mit der Sentenz von Wilhelm Busch: „Tugend will ermuntert sein, Bosheit kann man schon allein.“

Eines Tages war er nicht mehr da. An seiner Stelle saß nun die Tochter des Geschäftsinhabers. Die war weder hübsch, noch hässlich, sie war einfach nur da. Und obwohl sie den Stuhl ihres Vorgängers vollkommen ausfüllte, füllte sie seinen Platz nicht aus. Als ich sie zum ersten Male sah, wusste ich nicht sofort, was fehlte. Aber es wurde schnell klar: sie lächelte nicht. Sie war nicht unfreundlich, aber es gab kein Lächeln in ihrem Gesicht.

Zwar wurden die Reifen noch gewechselt in diesem Haus, zur vollsten Zufriedenheit sogar. Zwar gab es noch Kaffee für die Wartenden, aber ich wurde schon nicht mehr dazu eingeladen. Es war keine Unfreundlichkeit, die nun hier herrschte, und trotzdem fehlte etwas, was vorher da gewesen war. So konnte es passieren, dass der Automechaniker nach getanem Reifenwechsel sagte, der Ölstand sei zu gering, ob man das nicht gleich mit erledigen solle. Es gab in dieser Werkstatt jetzt geschäftliche Angebote anstelle von Zitaten. Wohin war der lockige Werkstattmensch verschwunden? Die Auskünfte dazu waren eingeschränkt. „Der Kollege arbeitet nicht mehr bei uns.“ Mehr war nicht zu erfahren.

Und eines Tages war auch die dicke Tochter weg. An ihrer Stelle saß ein junger Mensch. Er gehörte ganz sicher nicht der Dynastie der Reifenhändler an, sah eher wie angeheiratet aus. Der Kerl beugte sich gerade über sein Smartphone und befingerte es mit schwarzen Händen. Offenbar schrieb er Nachrichten. Ich betrat das Reifenreich zum Wechsel auf Winterräder. „Moment noch.“ Ohne aufzusehen kamen seine Worte aus einer anderen Welt. Ich schielte zur Sitzecke hinüber. Diesmal stand keine Kaffeekanne da. Die Getränke waren offenbar aus. Der junge Mann hatte ausgesimmst. „Haben Sie einen Termin?“ Ich verneinte. „Dann kann es dauern, setzen sie sich da hin.“ Ich setze mich. Ich hatte nicht mitgezählt, wie oft ich schon in dieser Werkstatt war. Ich erschien zwei Mal im Jahr hier, das ist in gewisser Weise regelmäßig. Immer wurden die Reifen gewechselt, die geforderte Arbeit verrichtet. Und doch fehlte es Jahr um Jahr an etwas, ging ein wenig verloren von dem, was schwer zu benennen und zu greifen war.

Es war mit Geld nicht zu bezahlen, aber es war unwiederbringlich verloren gegangen im Getriebe des Alltagsgeschäfts. Draußen vor der Tür fegte der Wind die braunen Blätter über den Hof. Kalt geworden war es in diesem Jahr. Eine Kälte, die nicht allein vom Wetter kam.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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