Sprachlos

Aufschrei Es gibt Tage, da möchte man schreien und muss doch halbwegs stumm bleiben bei dem, was man sieht und was wütend macht

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wohin steuert unser Wohnstern Erde gerade? Diese Frage ist nicht himmelsmechanisch zu beantworten, nur kulturell und politisch. Was geschieht in einer zerrissenen Welt, die einem gelegentlich die pure Wut auf die Stirn zu zaubern vermag?

Derzeit sucht eine sich christlichen Grundwerten verbunden glaubende Partei einen neuen Vorsitzenden, respektive eine Vorsitzende. Zur Verfügung stehen drei Menschen, die meinen, fähiger zu sein als ihre Vorgänger(in). Einer der drei ist ein durchaus sympathischer Typ, der in mehreren Aufsichtsräten tätig ist und ein Einkommen hat, das weit jenseits des Durchschnitts liegt. Und zwar weit jenseits oberhalb. Was aber denkt der designierte Vorsitzende, zu sein? Er fühlt sich zur sogenannten Mittelschicht gehörig. Gern würde man wissen, wer denn dann zur Oberschicht zu zählen wäre. Ob wir in ein paar Jahren eine Bierdeckelsteuererklärung hinbekommen, wenn der Mann mit dem Frühling im Namen gewählt werden würde? Politik hat leider nur selten die Pflicht, anders als sonstige Lebensbereiche, sich am eigenen Wort messen zu lassen.

Wohin der Mensch schaut, überall blüht die Pflanze des Nationalismus, wird größer und wuchert in jedem noch so kleinen Winkel. Sie wächst, gedeiht und trägt Früchte. So, als hätte es keine zwei Weltkriege mit Millionen Toten gegeben, als wäre es in Zukunft möglich, auf internationale Probleme mit nationalen Lösungen zu antworten. Die Herausforderungen, vor denen die ganze Menschheit steht, sind zu groß, als dass sie mit Nationalismen zu besiegen wären: Ressourcenknappheit, Hunger, Klimaveränderung, Artensterben, soziale Ungleichheit, Verschmutzung der Weltmeere, ethnische und religiöse Konflikte, Flucht und Vertreibung, die Liste ist mit Sicherheit nicht vollständig. Würde nur der Versuch unternommen, irgendeines dieser Probleme im nationalen Alleingang zu lösen, endete das früher oder später in kriegerischen Konflikten. Das lehrt die Geschichte. Es ist, bei allen Unzulänglichkeiten, mit denen die EU behaftet ist, die größte Errungenschaft der letzten Jahrzehnte: die Verhinderung von Krieg aufgrund nationaler Egoismen.

Vermeintlich leben wir in einem postfaktischen Zeitalter, eines, das mit dem merkwürdigen Präsidenten jenseits des Großen Teiches auf den Plan trat, der glaubt, die sogenannte „freien Welt“ zu repräsentieren. Es kommt gar nicht mehr auf Tatsachen und Beweise an, das ist schon unter den Vorgängern dieses gutfrisierten Oberchefs klar geworden. Kriege lassen sich auf Legendenbasis führen, wie wir alle erlebten. „Alternative Fakten“ wird das genannt, was früher als dreiste Lüge oder Unwahrheit bezeichnet wurde. Noch immer ist das Gefangenenlager in Guantanamo in Betrieb. Dort werden Menschen über mittlerweile Jahrzehnte festgehalten, ohne Anklage, ohne Verteidigung, ohne Hoffnung. Ich bin sehr dafür, dass gemeine Verbrecher bestraft werden. Aber bitte mit einem ordentlichen Gerichtsverfahren, mit Anwälten, Verteidigern und auf Basis von Gesetzen. Haben unsere amerikanischen „Freunde“ jemals die UN-Menschenrechte gelesen? Was für ein Sturm der Entrüstung ginge durch die westliche Journaille, würde Russland ein baugleiches Lager in Sibirien oder anderswo betreiben.

Es mag ein Fall für die Auslegung durch Rechtsanwälte sein, wenn ein Anti-Aufkleber gegen eine real existierende Partei aus einem Spielfilm entfernt wird, wie im „Polizeiruf 110“ geschehen. Es zeigt sich hier aber eine Tendenz, an deren Ende Zensur und politische Einflussnahme auf die Kunst stehen wird. Wenn in absehbarer Zukunft Parteipolitik bestimmt, was richtig oder was falsch in künstlerischen Darstellungen ist und Meinungen sich in öffentlich verlautbarte und private teilen, dann haben wir wieder, wie schon mehrfach in der Vergangenheit, eine schweigende Mehrheit, eine mundtot gemachte. Das sollten wir uns alle nicht wünschen. Deshalb täte ein gelegentlicher Aufschrei not.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden