Über Untersachsen

Gelesen Versuch einer Deutung

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Ich wollte es wissen und habe es gekauft, allerdings als E-Book, weil möglicherweise das Papier zu schade dafür ist. Nun habe ich es gelesen, das Buch „Unter Sachsen“, Seite um Seite, und bin so ratlos „als wie zuvor“. Ich wollte wissen, wie es ist unter „den Sachsen“ denn wäre, unter denen auch ich nun schon seit über einem halben Jahrhundert lebe, weil ich von Geburt an „Sachse“ bin. Und ich weiß es nun, dank der Lektüre, noch immer nicht. Abgesehen von den eigenen Erfahrungen, die sich Schicht um Schicht aufbauten mit den Jahren. Angemerkt sei, dass es „die Sachsen“ als homogene Gruppe genauso wenig gibt wie „das Volk“ oder „die Ausländer“.

Das Buch macht zunächst mal eines: sprachlos. Die Dokumentation der körperlichen und verbalen Gewalt gegen diejenigen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nach Deutschland kamen und kommen, lässt den Leser verzweifeln. Zwar wird wenig Neues geschildert, die Fälle sind bekannt und vielfach medial aufbereitet. In Summe und beieinander sind sie jedoch beängstigend.

Den wenigsten Autoren des Buches gelingt es aber, in die Tiefe zu dringen und die wirklichen Ursachen für die offenbar in Sachsen sehr kritischen Haltungen zu Migranten und Asylsuchenden in Teilen der Bevölkerung zu finden. Sattsam bekannte Autoren sind darunter, die uns mit ihren Ansichten schon seit Jahren wöchentlich „beglücken“. Aber die Ursachen für die weltweiten Konflikte, die Gründe für globale Fluchtbewegungen decken sie leider nicht auf. Das Wort „Kapitalismus“ kommt ganze vier Mal im Buch vor, das Wort „Imperialismus“ gar nicht.

Wenn ein hiesiger Einwohner, von Hartz-IV lebend, eine Hose trägt, die er für 4,99 gekauft hat und die in Bangladesch von Frauen unter unwürdigsten Bedingungen gefertigt wurde, dann offenbart das, wie kompliziert und verzahnt die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind. Und es zeigt, dass man mit dem Finger nicht auf jene weisen sollte, denen diese undurchsichtigen Verhältnisse Angst machen, genauso wenig wie auf jene, die vor diesen Verhältnissen fliehen, sondern auf die, welche die Verhältnisse zu verantworten haben.

Es ist unbestritten, dass Asyl, dass die Flucht vor Krieg und Gewalt ein Menschenrecht ist, welches unter allen Umständen zu gewähren ist. Genauso klar ist aber auch, dass mancher eben nicht vor dem Krieg flüchtet, sondern vor den Produktionsverhältnissen im eigenen Land. So wenig, wie jeder DDR-Flüchtling politisch verfolgt war, so wenig ist jeder Asylsuchende ein Flüchtender vor Gewalt. Die Menschen wollen ein besseres Leben. Das ist sehr zu verstehen. Und dazu müssen die Verhältnisse geändert, die Ursachen für die Flucht bekämpft werden. Letztlich ist es die soziale Frage, welche ungelöst ist, solange die Produktionsmittel in Privathand sind.

Über viele Jahre hinweg, insbesondere in der Zeit von „König Kurt (Biedenkopf)“ hat man den Sachsen erzählt, sie seien, wenn schon nichts Besseres, dann aber wenigstens etwas Besonderes, hat man ihre „sächsische Seele“ gehätschelt und gestreichelt. Daran beteiligt waren auch einige Kulturschaffende, die eine teilweise widerliche Sachsentümelei säten, deren Ernte nun aufzugehen scheint. Ich wünschte mir von jenen Kulturarbeitern, dass sie Haltung bezögen. Bei einigen weiß man, wenn sie sich öffentlich äußern, noch immer nicht, ob sie eine Rolle spielen oder ob sie vielleicht doch eine eigene Meinung haben.

Ich kann die Angst meiner Mitmenschen vor dem imaginären „Fremden“ verstehen. Da hilft auch dass dümmliche Argument und die genaue Prozentangabe nicht, welche besagt, dass der Ausländeranteil so und so gering sei. Die Menschen in Sachsen, aber auch in ganz Ostdeutschland, befinden sich seit Jahrzehnten in einem permanenten Prozess der Anpassung an neue Verhältnisse. Zuerst kamen jene aus den westlichen Gefilden, die ihnen die Welt zu erklären versuchten. Sie schilderten uns die Meinungsfreiheit in schillernden Worten, um nun die Meinungen, welche ihnen nicht passen, reflexartig nach rechts zu verorten. Sie erzählten den Leuten auch die Mär von der schlechten Produktivität ihrer Betriebe, selbst dann noch, als diese längst von der Treuhand zum Spottpreis gekauft und modernisiert waren. Fast jeder Lebensbereich wurde einer Anpassung an die (alt)bundesdeutschen Verhältnisse unterzogen, Arbeitsplatzvernichtung wegen Konkurrenzbeseitigung in ungeahnter Größenordnung eingeschlossen. Dann kam mit Macht die Globalisierung, die Verlagerung oder gar der Abbau von Arbeitsplätzen in ganzen Industrieregionen. Und nun kommen Fremde, mit unverstandener Religion, anderen Weltsichten und gänzlich anderen Mentalitäten, und das verunsichert ein weiteres Mal. Es empfindet nicht jeder als Bereicherung, was ihm bisher unbekannt war.

Kürzlich hörte ich im Deutschlandfunk eine Zahl, die mich erschreckte. Befragt wurden Menschen muslimischen Glaubens, die vor die Wahl gestellt wurden, ob sie ihren religiösen Schriften oder den weltlichen Gesetzen des Staates Folge leisten würden, wenn sich beides wiederspräche. Über fünfzig Prozent gaben an, dass sie ihrer Religion folgen würden. Das hebt einen unserer wichtigsten Grundsätze aus den Angeln: die noch immer nicht komplett vollzogene Trennung von Staat und Religion. Diese Zahl sollte uns zumindest nachdenklich stimmen dürfen.

In einer Sache jedoch kann ich meine sächsischen Mitbürger nicht verstehen. Sie wählen seit Jahren mit überwältigender Mehrheit die immer gleiche Partei zur führenden Kraft und wundern sich hinterher, dass sich nichts ändert. Ich glaube, das wird es solange nicht, wie sich diese Partei als Staatspartei fühlt und über grundlegende Reformen in Politik und Wirtschaft nicht nachzudenken wagt. Und ändern muss sich etwas, wenn der gesellschaftliche Friede nicht gänzlich zerbrechen soll. Mittlerweile geht ein Riss durch die Gesellschaft. Das ist gefährlich. Genauso gefährlich ist es, wenn die CDU versucht, Diskussionen über das hier in Rede stehende Buch zu unterbinden. Das erinnert wieder fatal an die DDR-Zeit, als auch da eine Partei genau wusste, was richtige und was falsche Meinungen sind und jede Diskussion darüber unterband. Die Ähnlichkeit in Tun und Denken ist frappierend.

Möglicherweise ist Sachsen mit seinem Pluralismus an Meinungen eines der führenden Bundesländer. Man traut sich mutig, eine Meinung zu haben, auch eine abweichende. Das muss ein Staatswesen, welches sich als Demokratie bezeichnet, aushalten können. Ich glaube aber nicht, dass es zielführend ist, wenn man die Bevölkerung eines ganzen Bundeslandes unter den Generalverdacht der rechten Gesinnung stellt. Da wird ein Bild von den „Untersachsen“ gezeichnet, welches kaum der viel komplexeren Realität gerecht wird. Diese ist vielfältiger und bunter, als es das Buch glauben lässt. So gesehen, ist „Unter Sachsen“ nicht hilfreich. Im Gegenteil, es vertieft die Gräben.

"Unter Sachsen" Zwischen Wut und Willkommen, Ch. Links Verlag 2017, ISBN 978-3-86153-937-7

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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