Von einem Handelsmann in einem fernen Land

Nur ausgedacht Ein modernes Märchen

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Es war einmal ein Handelsmann, der wohnte in einem fernen, großen Land. Um dorthin zu gelangen, müsste man viele Wochen über die Ozeane fahren, denn zu Fuß ist dieses Land nicht zu erreichen. Im Laufe vieler Jahre zu großem Reichtum gekommen, war er mit Frau und Kinder gesegnet und hätte eigentlich glücklich sein können, war er doch schon ziemlich alt, aber nicht weise und auch nicht zufrieden genug, um sich zu bescheiden.

Es begab sich, dass in diesem Land ein neuer König gesucht wurde, weil die Zeit des alten Herrschers abgelaufen war. Das Volk wurde aufgerufen, diesen neuen König zu wählen. Ja, es war ein modernes Land, das seine Könige zu wählen pflegte. Und obwohl unser Handelsmann von Regierungsgeschäften keine Ahnung hatte, stellte er sich zur Wahl. Es gab natürlich noch viele andere Kandidaten. Aber der alte Händler wusste genau, wie man Konkurrenten niederrang, hatte er doch im Laufe seines Lebens genug Erfahrungen gesammelt. Schon mit vielen hatte er sich angelegt, schon viele hatte er besiegt und so war es für ihn ein Spaß, seine Mitbewerber um das Amt des Königs aus dem Felde zu schlagen. Dass er dabei nicht immer fein vorging, spielte für ihn keine Rolle. Er log und betrog, redete falsch Zeugnis vor dem Volk und war sich ziemlich sicher, den Sieg davonzutragen. Er versprach den Menschen Wohlstand und Reichtum, Sicherheit und Frieden. Und obwohl der Handelsmann fast nur unter seinesgleichen verkehrte, zu den reichsten Familien des fernen Landes gehörte, machte er das Volk glauben, einer von ihnen zu sein. Er hatte nur selten ein Buch gelesen, war aber schlau genug, genau rechnen zu können. So kam es, dass er bisher nur ganz selten Steuern zahlte und sich meist durchzuschummeln wusste in seiner langen Laufbahn.

Der Handelsmann hatte einen großen Zeigefinger. Mit dem zeigte er auf all jene Leute, die er zu seinen Feinden erklärte, weil sie nicht so dachten wie er selbst. Und deren waren es viele. So zeigte er auf jene Menschen, die nicht wie er an den Gott der Christen glaubten. Er erklärte auch die Bewohner seines südlichen Nachbarlandes zu Schmarotzern und versprach seinem Volk, sein Land mit einer großen und hohen Mauer zu schützen. Damit wollte er verhindern, dass noch mehr Leute aus dem Süden in sein Land kamen. Wahrscheinlich hatte der Handelsmann Angst vor ihnen.

Nun gab es zu dieser Zeit böse Mächte, die es dem Händler leicht machten, das Volk durch Halbwahrheiten und Lügen auf seine Seite zu ziehen. Diese Mächte waren weltweit unterwegs, verbreiteten Angst und Schrecken, mordeten und brandschatzten und waren sogar bereit, für ihre Sache selbst zu sterben. Sie wollten nichts anderes als die Weltherrschaft und unser Handelsmann war einer ihrer Feinde. Und auch er machte die Vernichtung dieser bösen Macht zu einem seiner Ziele. So gebar Feindschaft wieder Feindschaft und es wurde kein Friede auf Erden.

Nachdem nun der Händler lange genug dem Volk Honig ums Maul geschmiert hatte, fand die Wahl statt. Und viele, viele Menschen wählten den Krämer, der sie umschmeichelt und umgarnt hatte. Der Handelsmann in dem fernen Land wurde zum neuen König. Schon wenige Tage nachdem er den Thron bestiegen hatte, veränderte er per Dekret die bisherige Politik des Landes. Mit einem Federstrich nach dem anderen erließ er Anordnung um Anordnung. Er legte sich mit allen an, die nicht seiner Meinung waren. Viel Gutes, das seine Vorgänger eingeführt hatten, machte der neue König nun rückgängig. Überall ließ er Plakate aufhängen, auf denen zu lesen stand: „Mein Reich zuerst!“

Und er brauchte natürlich auch neue Minister an seiner Seite. Die fand er zuhauf unter seinen vielen Bekannten. Einige altgediente Offiziere wurden zu Ministern berufen und auch der ein oder andere Milliardärskollege war darunter. Alles in allem schuf sich der neue König ein Reich ganz nach seinem Geschmack und er hätte glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende regieren können.

Eine ganze Menge seines Volkes aber war unzufrieden mit dem Herrscher. Der Handel florierte plötzlich nicht mehr wie früher, weil sich die Händler vor dem König fürchteten und ihre Waren lieber anderswo auf der Welt anboten. Auch wurde lautstark gegen seine Art protestiert, mit Fremden umzugehen, mit jenen, die vor Krieg und Gewalt in sein Reich geflüchtet waren. Die Straßen und Plätze des Landes waren plötzlich voll mit Menschen, die pfiffen und schrien und den neuen König ausbuhten. Der aber war sich seiner Sache so sicher, dass ihn diese Proteste vollkommen kalt ließen. Er regierte also Zeit um Zeit. Die böse Macht jedoch konnte auch der neue König nicht bekämpfen, weil er die Ursachen nicht erkannte, die diese Macht nährten und zu der er selbst gehörte.

Aber all jene, die mit dem König zu tun bekamen und die er in seine Nähe ließ, verneigten sich tief vor ihm, denn er verbreitete Angst unter seinen Untertanen. Auch wenn hinter seinem Rücken oft über seine Frisur gelacht wurde, hätte doch niemand gewagt, ihm je die ehrliche Meinung ins Gesicht zu sagen. Zu groß war die Furcht vor seinem Jähzorn und seinem großen Zeigefinger, mit dem er seine Gegner anzuklagen pflegte. Insgeheim hatten sich schon viele seiner Verbündeten von ihm abgewandt, sie wagten nur nicht, es offen zu zeigen.

Bis eines Tages eine Parade stattfand, an der der König teilnehmen musste. Auf einer großen Tribüne saß er auf seinem Thron, umgeben von all seinen Ministern, Dienern und Lakaien. Unten lief das Volk vorbei und huldigte ihm. Auch ein kleines, blondes Mädchen war darunter. Es war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Mit seinen unschuldigen Augen sah es geistesabwesend auf den König. Kurze Zeit vorher hatte das Mädchen Streit mit seinem Bruder gehabt. Er hatte sie belogen, weil er von ihren Süßigkeiten genascht hatte und es nicht zugab. Noch immer ganz in Gedanken an ihren Bruder rief das Mädchen, als sie nah genug heran war und es der König und das Volk hören konnte: „Er ist ein Lügner, er ist ein Lügner … ein Lügner ist er.“

Der König lief rot an vor lauter Wut, weil er glaubte, das Mädchen meinte ihn. Aber da er schlecht vor allen Leuten mit seinem bösen Finger auf ein kleines, unschuldiges Mädchen zeigen konnte, sagte er nichts. Das Volk aber deutete sein Schweigen als Eingeständnis. Und es stand auf, erhob sich von seinen Plätzen und fiel in die Worte des Mädchens ein. „Lügner, Lügner, Lügner.“, erscholl es auf allen Straßen im ganzen Land.

Die Rufe waren sehr laut und sie waren überall zu hören, selbst jenseits des großen Meeres, und weil sich plötzlich niemand mehr vor dem ehemaligen Handelsmann fürchtete, musste der alte Mann mit der komischen Frisur abdanken. Wieder wurde ein neuer König gesucht, aber das interessierte den Alten nicht mehr. Er nahm seinen Hut und seine Siebensachen und zog auf einen Landsitz, weit hinter den sieben Bergen, dorthin, wo der Pfeffer wuchs.

Und wenn er nicht gestorben ist, lebt er heute noch dort.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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