Kürzlich erhielt ich als Reaktion auf ein von mir geschriebenes Buch eine Mail von einem Bekannten. Darin äußerte er, neben seiner Meinung zu Inhalt und Form, auch eine Erkenntnis. Erst seit er nach der Wende 1989 gereist wäre, sei er zu einer wirklichen Weltanschauung gekommen. Das ähnelt dem schon oft bemühten Bonmot „Weltanschauung braucht Welt-Anschauung“. Darüber habe ich lange nachgedacht.
Reisen gehört für die Menschen hierzulande zu den wichtigsten Dingen. Für viele Leute ist der Urlaub gleichbedeutend mit einer Auslandsreise. Urlaub im Inland, gar in der Nähe der heimatlichen Wohngegend, scheint keiner zu sein. Dabei wird vorrangig Wert auf niedrige Preise, guten Service und Bequemlichkeit gelegt. Möglichst soll alles Wichtige inklusive sein, vom Getränk bis zum Snack nach Mitternacht. Das Reiseziel so exotisch wie es erträglich ist, muss es für manche einen Hauch von Gefahr beinhalten. Beispielsweise eine Safari zu den „letzten ihrer Art“ in Tansania, mit einem Führer und gebucht in Versicherungsmanier. Einmal die „big five“ sehen ist schon was. Da scheint die einheimische Tierwelt nachgerade langweilig blass zu sein.
Die Frage ist, ob diese Menschen ihrer Welt-Anschauung wegen reisen oder nur die Liste der noch zu besuchenden Orte auf der Erde abhaken. Es gibt Leute, die erzählen sich nach ihrer Rückkehr nichts über die Slums dieser Welt, über Ausbeutung und Unterdrückung. Die reden von den Getränkepreisen und dem Service des Personals, von der Größe ihrer Suite und dem Wetter vor Ort.
Als das Reisen noch nicht Allgemeingut war, reiste man oft der Kunst oder der Bildung wegen. Deutsche Maler fuhren nach Italien, schwärmten vom Licht und der Lebensart, ließen sich inspirieren und schufen hernach ein Werk. Humboldt reiste, um Erkenntnisse zu sammeln, nahm oftmals größte Beschwernisse in Kauf und kam mit einem Schatz an Wissen und Erfahrung zurück.
Das Reisen heutiger Menschen dient fast ausschließlich dem Vergnügen, von Dienst- und Handelsreisenden einmal abgesehen. Die größte Pervertierung erhält es, wenn sich der Urlauber in fernem Land an den Strand in die Sonne legt und zum Mittagessen Schnitzel mit Pommes verlangt. Warum er dafür dreitausend Kilometer zwischen hier und dort zurücklegte, bleibt ein Rätsel. Innere Einkehr und Erbauung, zwei Worte, die etwas aus einer längst vergangenen Zeit zu beschreiben scheinen, kommen dabei kaum vor.
Offenbar hat das Reisen nicht maßgeblich zur Völkerverständigung beigetragen, wie sich deutlich aus dem Anwachsen nationalistischer Ansichten ablesen lässt. Es gibt Leute, die in jedem Jahr zwei Mal eine Auslandsreise unternehmen und sich doch zu Hause keinen Deut um die politische Lage scheren. Die neoliberale Lebenslüge besteht darin, Freiheit maßgeblich als Reise- und Bewegungsfreiheit zu definieren. Die ökonomischen Fesseln, sowohl die hiesigen wie die im Gastland, werden ausgeblendet oder marginalisiert. Dabei wurde das Reisen selbst so ökonomisiert, wie die meisten anderen Lebensbereiche.
Würde es stimmen, dass nur Reisen zu einer Weltanschauung führt, hätten die Menschen zurückliegender Jahrhunderte gar keine besessen. Das bezweifle ich entschieden. Schon der weise Laotse wusste: „Ohne aus der Tür zu gehen, kennt man die Welt. Ohne aus dem Fenster zu schauen, sieht man den Sinn des Himmels. Je weiter einer hinausgeht, desto geringer wird sein Wissen.“ Darüber lohnt es sich nachzudenken.
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