Was ist ein Gedicht?

Literatur Eine lyrische Betrachtung eines großen Mysteriums

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"Ein Mysterium der Literatur"
"Ein Mysterium der Literatur"

Foto: Mario Tama/Gettyimages

Herr A. aus Z. schreibt seit Jahren für ein Periodikum ein Gedicht. Er erhält für ein abgedrucktes Werk aus seiner Feder ein Belegexemplar des Druckerzeugnisses. Dabei ist es vollkommen wurscht, wie lang das Gedicht ist, ob es sich reimt, in klassischen Versen oder freiem Rhythmus verfasst ist. Es kann ein Sonett sein oder ein Gedicht mit vielen Strophen. Versmaß und Reimschema spielen keine Rolle. Der Autor wird nie mehr als ein Belegexemplar für sein den Hirnwindungen mit Mühe abgerungenes Werk erhalten.

Für einen Prosatext würde derselbe Herr A. aus Z. zwei Belegexemplare bekommen. Egal, wie lang der Prosatext wäre, ob als Nachricht, Bericht, Kurzgeschichte oder Interview verfasst. Auf die Waage des Apoll gelegt, scheint die Prosa schwerer zu wiegen.

Ist ein Gedicht nun Literatur, Kunst gar und was ist es als solche wert? Wiegt ein Prosatext wirklich schwerer? Wie muss man Gedichte lesen? Mit Hintersinn, als Unsinn oder doch Irrsinn? Und was ist von Leuten zu halten, die selbst welche schreiben? Gedichte sind zu Unrecht in Verruf geraten. Nie wurden mehr angefertigt, als heute. Und sie werden sogar gelesen, auch wenn Gedichtbände nur selten auf Bestsellerlisten landen.

Was will der Dichter uns damit sagen?

Ein wenig Schuld an der Situation hat der Deutschunterricht, den jede Generation aufs Neue über sich ergehen lassen muss. Da werden Gedichte besprochen, seziert und auswendig gelernt, die mit dem Leben der jungen Menschen so viel zu tun haben wie Linux mit Lessing. Und der Höhepunkt schulwissenschaftlicher Denkleistung, der Gipfel literaturtheoretischer Betrachtung wird erreicht, wenn die berühmte Frage im Raum steht: „Was will der Dichter uns damit sagen?“ Ja, was denn nur?

Im Mittelpunkt dieser Frage steht jener, der es wagt, das Ergebnis eines Schreibeinfalls der Welt zur Kenntnis zu geben. Der nicht verhindern wollte oder konnte, dass sich Buchstaben zu Worten und ganzen Sätzen fügten, launische Bilder formten und sich das Ganze als Gedicht erbrach. Er, (oder Sie), der Dichter (oder die Dichterin) sind schuld am Leid der Schüler, das ihnen wiederfährt beim Auswendiglernen jener Ergüsse, die wir als Lyrik zu bezeichnen pflegen.

Die Frage beginnt mit „Was will“ und suggeriert damit, der Dichter hätte eine Absicht. Es wird unterstellt, das Anfertigen von Gedichten würde einem Plan folgen, nach dessen Verwirklichung etwas entstanden ist, was uns gar beeinflussen oder erziehen soll. Die Frage „Was will der Dichter uns damit sagen?“ hat bei ganzen Schülergenerationen den Reiz an und das Verständnis für Lyrik (und andere Gattungen der Literatur und Kunst) gründlich verdorben.

Warum ist die Frage bei näherem Hinschauen falsch? Weil Gedichte wie andere Kunst auch, zunächst in der Regel absichtslos entstehen. Meist steht am Anfang des lyrischen Prozesses ein Bild, eine Assoziation, eine Wortgruppe. Diese wirkt quasi als Gravitationszentrum, zieht Wort um Wort an, um so ein fragiles Gebilde, ein Gewebe zu bilden. Der Dichter möchte in dieser Phase des Gedichte-Entstehens gar nichts sagen, im Gegenteil, er lauscht darauf, dass ihm etwas offenbar wird. Denn nicht der Dichter erschafft das Gedicht, das Gedicht sucht sich den Dichter. Deshalb kann der auch nichts sagen wollen. Schlussendlich, am Ende des Schaffensprozesses, wenn ein lyrisches Etwas das Licht der Schreibstube erblickt hat, mag eine Aussage in ihm enthalten sein. Die aber ist nicht gewollt sondern dem lyrischen Text immanent, ziemlich unabhängig vom Dichter.

Das lyrische Ich stirbt aus

Möglicherweise ist die Frage, was der Dichter denn um Himmels Willen zu sagen beabsichtigt, auch einem grundlegendem Irrtum geschuldet. Über lange Epochen hinweg war in den Gedichten von jenem vielbesprochenen und mysteriösen „lyrischen Ich“ die Rede. Zwar gibt es im modernen Gedicht die Tendenz, diese „lyrische Ich“ zu töten, ganz gestorben scheint es aber noch nicht zu sein. Die „entpersönlichte Lyrik“, welche Ausdruck der Entfremdung von Mensch, Technik und Natur sein soll, scheint es nicht ganz zu schaffen, das „ich“ zu überwinden.

Wenn besagter Herr A. aus Z. Jahr um Jahr trotzig seine Gedichte der Leserschaft unterbreitet, so ist er eben auch Opfer eines großen Irrtums: Gedichte sind weit weniger schwer zu schreiben als Prosa. Diesem Irrglauben unterliegen Verleger, Herausgeber und manchmal die Autoren selbst. Einen Prosatext zu schreiben, erfordere ein Höchstmaß an Arbeit, Zeit und Disziplin. Dass Gedichte, gerade weil sie mit weniger Worten auskommen, besonders stimmig sein müssen, wird völlig übersehen. Ein falsches Wort in einem Roman wird überlesen. Aber ein falsches Wort, ein fehlerhafter Rhythmus oder eine holpernde Zeile kann ein Gedicht zerstören.

Die Lyrik gehört zu den ältesten Formen der Literatur. Sie wird von gesellschaftlichen Einflüssen geprägt und passt ihre Form den sich ändernden Realitäten auf ganz spezifische Weise an. Das moderne Gedicht wird bestimmt durch den Verzicht auf klassisches Versmaß oder Reimschemen. In freiem Rhythmus reflektiert es die reale oder fiktionale Seite des Daseins. Dazu bedient es sich einer Sprache, die über jene des Alltags weit hinausreicht, spielt mit Worten und Metaphern und muss die bisher unbeschriebenen, weißen Seiten mit Berührendem füllen.

Nicht alles, was sich reimt, ist ein Gedicht und schon gar nicht jedes Gedicht muss sich reimen. Der Reim, dezent und nicht vordergründig aufdrängend, kann dem lyrischen Text eine gewisse Würze verleihen, notwendig aber ist er nicht. Ein gültiges Gedicht wird letztlich erst durch den Leser fertigeschrieben, ist somit nie ganz vollendet, weswegen die Frage nach der Botschaft, die der Dichter dem lyrischen Gebilde mitzugeben beabsichtigte, sinnlos wird. Diese Frage müsste richtigerweise lauten: Was wurde beim Leser damit ausgelöst?

Besonders deutlich wird dies beim Hören der am weitesten verbreiteten Form von Lyrik, dem Lied. Die Geschichten vollenden sich beim Hören in besonderer und bei jedem in anderer Weise selbst.

Ein Gedicht ist also letztlich ein ohne Grund in die Welt gesetztes Stück zeitloser Poesie, welches erst durch den Leser seinen endgültigen Sinn entfaltet. Damit ist und bleibt es ein Mysterium der Literatur.

2. Stolpener LesePodium am 24. November 2017, 19 Uhr, im Rats- und Bürgersaal Stolpen zum Thema "Gedichte liest kein Schwein" mit Michael Gätke, Matthias Stark sowie Jens Opitz und seiner Gitarre.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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