Weichensteller für die Zukunft

Risse reparieren Lernen aus der Wahl in Amerika

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Nun ist es also passiert! Da wurde jenseits des großen Teiches jemand gewählt, von dem man nicht weiß, in welcher Körperregion er sein Hirn versteckt hält. Im Kopf ja offenbar nicht. Und nun wundern sich viele, dass ein solch hohlköpfiger Mensch den Sieg davontrug. Aber ist das ein Wunder? Und war es wirklich so unvorhersehbar? Bei Wahlen und Volksabstimmungen auf den gesunden Menschenverstand zu setzten, ist offenbar ein Fehler, zumindest kann, wer es tut, sein blaues Wunder erleben. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: ich bin ein Freund der direkten Demokratie und finde nach wie vor, dass die Schweiz zu den wenigen, wirklich demokratische Staaten Europas zählt. Hier wurde die Demokratie per Volksabstimmung ja quasi erfunden. Allerdings setzt die direkte Abstimmung durch das Volk ein paar Dinge voraus, an denen in manchem Land ein eklatanter Mangel herrscht. Da wäre zum Beispiel die Kenntnis von Fakten, Daten und Zusammenhängen zu nennen, auf deren Basis eine Entscheidung getroffen wird. Ich bin sehr davon überzeugt, dass gerade Fakten und Daten bei ganz vielen Wählern gar keine Rolle spielt oder gespielt hat. Da geht es einzig um ein Gefühl, ein offensichtlich vorherrschendes Gefühl: das der eigenen Benachteiligung. Und aus diesem Gefühl heraus wird eine Wahl getroffen, die Stimme einer Person oder einer Partei gegeben, die es offenbar verstanden hat, dieses Gefühl auszunutzen. Wie sonst ist es zu verstehen, dass sozial Benachteiligte ihr Kreuzchen bei einem Milliardär gemacht haben, der im Geschäftlichen über Leichen zu gehen pflegt? Glaubt der „kleine Mann“ wirklich, dass es gerade dieser stinkreiche Multimillionär ist, der sich für ihn einsetzten wird? Jeder andere alternative Kandidat hätte möglicherweise den jetzigen Wahlsieger verhindert. Aber manch eine Politikerin berauscht sich offenbar solange am Gefühl der öffentlichen Macht, bis sie davongejagt wird.

Was lernen wir nun aber aus den Ergebnissen der Wahlen in Amerika und auch dem Votum der Briten? Dass die Abstimmung durch das Volk ein Fehler ist? Ich glaube nicht. Ein Fehler ist es aber sicher, sich aus dem Bauch heraus für eine Sache zu entscheiden, ohne die Fakten abzuwägen und die Konsequenzen zu bedenken. Und ein Fehler ist es, wenn auch die hiesigen Politiker nun so tun, als wären sie sonst wie überrascht, zur Tagesordnung übergehen und weiter so wursteln wie bisher. Offenbar geschieht aber genau das, einfach weiter so.

Wir sehen es an der Kungelei für einen möglichen Kandidaten zur Bundespräsidentenwahl. Da wird ein Mann ins Gespräch gebracht, der ein Mitarchitekt der Hartz-Gesetze ist, der die Kriegseinsätze der Bundeswehr befürwortet und der als Politiker längst sein Haltbarkeitsdatum überschritten hat. Und darüber hinaus werden wir ihn wieder nicht wählen können, unseren zukünftigen Präsidenten. Denn anders als in Amerika und anderswo auf dem Globus ist es bei uns ausgemachte Sache, dass das Volk den Präsidenten nicht wählen kann. Das ist Sache der Parteikungelei, dass wird in Hinterzimmern mit gezinkten Karten ausgeknobelt. Zu diesen Räumen hat das Volk keinen Zutritt. Aber es wird wieder Demokratie genannt werden, man wird den Wahlvorgang öffentlich zelebrieren und inszenieren, wo doch schon lange vorher klar sein wird, wer siegt. So etwas kann man auch Theater nennen.

Von menschlicher Größe würde zeugen, wenn ein Kandidat der Opposition, ein wahrhaft Intellektueller, ein Künstler, Schriftsteller oder Wissenschaftler zum Präsidenten gewählt würde. Ein kluges, unverbrauchtes und offenes Gesicht mit großer Ehrlichkeit. Gibt es etwa so einen oder eine unter uns nicht? Da unser Präsidentenamt in Deutschland mit fast keiner Macht verbunden ist, wäre es kaum ein politisches Risiko. Aber es könnte von einer Würde erzählen, die eigentlich mit diesem Amt verbunden sein sollte. Stattdessen bleibt alles beim Alten, Parteibonzen unter sich verspielen die letzte Glaubwürdigkeit und bestimmen einen aus ihrer Mitte zum Kandidaten. Und ich bin sicher, sie werden es auch diesmal schaffen.

Und hier sind wir wieder bei dem, was die hiesigen Politiker aus den Wahlen in Übersee lernen könnten: Bezieht das Volk wirklich mit ein, hört auf die Sorgen und Nöte der sogenannten „kleinen Leute“, lasst sie über ihr Schicksal wirklich selbst bestimmen. Die nächsten Wahlen werden zeigen, ob die Menschen weiterhin gewillt sind, sich von denen, die oft „etablierte Parteien“ genannt werden, länger noch etwas vorschreiben zu lassen. Durch unsere Gesellschaft geht ein Riss. Und dieser Riss ist mit Schönheitsreparaturen schon jetzt nicht mehr zu beseitigen. Bald geht es um die wirklich großen, grundlegenden Fragen. Unter anderem um die, in welcher Gesellschaftsform wir in Zukunft leben wollen. Einer spätkapitalistischen, national denkenden, auf immer weiteres Wachstum setzenden und geschlossenen oder einer humanistischen, weltoffenen, nachhaltigen und hoffentlich nichtkapitalistischen Gesellschaft. Für die anstehenden Wahlen in Deutschland ist es dringend angeraten, die Parteiprogramme zu lesen, zu verstehen und zu vergleichen. Wählen mit Verstand ist angesagt, nicht mit dem Bauch, dass lehrt uns der Wahlausgang in Übersee.

Noch sind die Weichen nicht gestellt, die Weichensteller aber leben schon mitten unter uns.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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