Wenn es schief läuft im Land

Schreibt Eingaben Wie sind Veränderungen möglich, wenn sich die Menschen nicht empören?

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Manchmal werden Erinnerungen wach, weil die gegenwärtigen Zustände fatal an die Zeit in der ehemaligen DDR erinnern. Wenn in dem untergegangenen Ländchen östlich der Elbe kaum Missstände in der Presse verlautbart wurden, so war die Diskussion im Arbeits- oder Wohnumfeld doch meist angeregt und offen, wenn es galt, Fehler und offensichtliche Schlampereien zu benennen. Zu ihrem selbst verschuldeten Ende hin gab es eine rege Diskussionskultur im Kollegenkreis. Die Menschen im Lande griffen öfter zu Stift und Papier und schrieben das, was man eine Eingabe nannte.

Auf diese Weise wurde sich über die mangelhafte Versorgung mit Wohnraum beschwert, über fehlendes oder ungenügendes Angebot an Obst und Gemüse oder Unterversorgung mit Ersatzteilen. Adressat war naturgemäß jene Instanz, welche glaubte, allwissend und allmächtig zu sein, die damals führende Partei.

Es wäre zu jener Zeit schlechterdings unmöglich gewesen, dass über Wochen und Monate hinweg Züge ausfallen, weil es an Lokführern mangelt. Heutigentags wird das ohne Murren und Meckern hingenommen. Keine Empörung, kein lauter Aufschrei, manchmal sogar Verständnis, weil sich da was nicht rechnet. Dank neoliberaler Indoktrination weiter Kreise der Bevölkerung hat die dann Verständnis für solche Situationen.

Es wäre eine Unmöglichkeit gewesen, dass es landesweit an Lehrern mangelt und Unterricht in nennenswerter Größenordnung ausfällt. Es war nicht vorstellbar, dass es Streifenpolizisten, die im öffentlichen Raum präsent sind, kaum oder gar nicht gibt. Polizisten, die sichtbar im Stadtumfeld für Ordnung sorgen und vor Ort sind, damit sich Menschen in den Städten nicht nur sicher fühlen, sondern es sind. Zumindest wäre nicht vorstellbar gewesen, dass dies alles ohne den Aufschrei in Form von Eingaben stattgefunden hätte.

Heute ist erlaubt, dass die Leute demonstrierend durch die Städte laufen, sich auf Plätzen zusammenfinden und ihre Meinungen lautstark artikulieren. Aber gehört werden sie kaum, ernst genommen schon gar nicht und sie ändern dadurch nicht die Bohne an den Zuständen. Entweder werden Kritiker auf den Straßen in politische Schubladen gesteckt, die dann je nach Präferenz mit linke oder rechte Populisten zu kennzeichnen sind, oder sie erhalten das Etikett „besorgter Bürger“, welches sie der Lächerlichkeit preisgibt. Echte Kritik oder gar Änderungswille an den politischen Zuständen ist nicht erwünscht. Jede Systemkritik wird von den Sonntagsrednern der Eliten abqualifiziert. Und oft wird Kritik als demokratiefeindlich angesehen. Wie steht es denn um die Demokratie, wenn die Meinungen und Wünsche der Menschen ignoriert werden und man nach Wahlen dann doch dem Parteikalkül folgt.

Wohin könnten die Bürger ihre Eingaben heute adressieren? Ans Bundeskanzleramt, den Bundespräsidenten oder die Vorsitzenden der Parteien? Man würde die Schriftstücke zur Kenntnis nehmen, abheften und zur Tagesordnung übergehen. Das derzeitige politische System in Deutschland hat sich derart verselbstständigt, dass es nur am eigenen Machterhalt Interesse zeigt, die Sorgen und berechtigten Anliegen des Staatsvolkes ignoriert.

Es war nie so dringlich wie heute, dass sich die Menschen im Land darüber empören, nicht gehört zu werden. Denn eines ist aus Erfahrung klar: an der Wahlurne wurde Politik noch nie entschieden.

Gemessen an den Unzulänglichkeiten der täglichen Praxis könnten unsere Politiker in einem Meer aus Eingaben schwimmen lernen. Wir müssten ihnen nur mal wieder schreiben...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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