Wortschätze

(Un)alte Bücher Antiquarische Entdeckungen

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Sonntags geöffnet, am Nachmittag, aber nur bei schönem Wetter. So stand es geschrieben an der Tür des Buchantiquariats in der Kurstadt B., in der wir ein paar Tage gemeinsam verleben, meine Frau und ich. Es ist die Stadt von Brecht, der hier ein Haus bewohnte und seine letzten Jahre am Ufer des hiesigen Sees zubrachte. Ein ganzer Gedichtzyklus von ihm ist nach dem Ort benannt und ich bin natürlich versucht, ihn hier zu lesen, am Ort der Entstehung sozusagen. Es sind starke Gedichte, eindringlich und hintergründig. Und doch werde ich sie vorerst beiseitelegen, nachdem ich das Antiquariat verlassen haben werde. Etwas anderes wird mich dann fesseln.

In alten Bücherbeständen stöbern ist immer wieder eine extrem lustvolle Reise in das Universum des Geschriebenen. Die An- und Einsichten längst verstorbener Autoren können die Augen öffnen, das Herz weiten, zum Tun anregen oder auch gar nichts von all dem bewirken. Ich werde fündig. Ein gut sortiertes Regal mit Ostautoren lässt mich nicht los. Neben Erwin Strittmatter, Günter de Bruyn und Hermann Kant, neben Christa Wolf und Dieter Noll finde ich ihn, gleich mit mehreren Büchern. Hanns Cibulka, der Thüringer Autor von kleinen, schmalen Bänden, die inhaltlich so manchen dicken Wälzer in den Schatten zu stellen vermögen. Ich muss mir eine Leiter leihen, das „C“ im Nachnamen ist weit oben einsortiert. Ein paar Stufen über dem knarrenden Holzboden ist die Perspektive eine andere, ich komme der Quelle näher, muss mich hoch hinaus wagen heute. Da steht dann also das berühmte „Swantow“ in mehreren Exemplaren gleich neben der „Sanddornzeit“. Beide Bändchen sind Teil der sogenannten Ostseetagebücher. Die Handlung des ersteren ist ein Örtchen auf Rügen, die „Sanddornzeit“ ist auf Hiddensee angesiedelt. „Swantow“ gilt zurecht als eines der wichtigsten Werke des Thüringers. Es wurde 1982 erstmals veröffentlicht und führt dem Leser unser falsches Leben zulasten der Umwelt vor Augen. Es ist ein sehr berührendes Buch, das nachwirkt und das man immer wieder zur Hand nehmen muss. Es hat nichts an Aktualität eingebüßt. Geschrieben wurde es in Zeiten, als Umweltbewusstsein ein ziemlich verbotenes Wort war.

Ich aber greife mir auf der Leiter stehend zwei andere heraus. „Das Buch Ruth“ aus dem Jahr 1978 und „Der Rebstock“ von 1980. Hübsch illustriert das letztere, mit typischen Cibulka-Gedichten rund um den Wein und das Leben. Das erstere ist im gleichen handlichen Format, dennoch gewichtiger. Ein Kurzroman in Tagebuchform, wie Hanns Cibulka einige schrieb. Es geht um die späte Liebe des Archäologen Michael S. zu Ruth, einer Kollegin. Aber auch hier Reflexionen des Alltags, fortdauernde Wahrheiten, zwischen den Zeilen eingestreut. Das Interessante am gebrauchten Buch ist, dass der Vorbesitzer sich für ihn wichtige Textstellen angestrichen hat. Und stelle fest, dass wir Brüder im Geiste sind, der das Buch vor mir besessen hat und ich. Ich grüße den mir Unbekannten.

Die Verkäuferin im Antiquariat entpuppt sich als Kennerin, während ihrer Ausbildung zur Bibliothekarin hat sie auch über Hanns Cibulka geschrieben. Wir kommen ins Gespräch. Der Schriftsteller wurde von vielen verehrt, ist aber leider schon fast vergessen in unserer modernern Zeit. Geboren im Jahr 1920 in Jägerndorf, das heute zu Tschechien gehört, ist er zeitlebens ein Mahner gewesen, ein nachdenklicher Schreiber kleiner Prosa, die nachhaltig bis in unsere Zeit zu wirken vermag. Im Hauptberuf Bibliothekar in Gotha, war Hanns Cibulka wichtiger Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts mit all seinen Widersprüchen und Wirrungen. Er besaß die Fähigkeit, sich an Klassikern der Literatur und der Musik aufzurichten und sie als Wegweiser für das eigenen Leben zu nutzen. Der Schriftsteller starb im Jahr 2004 in Gotha.

Ich verlasse die Bücherstube also mit zwei Neuerwerbungen, lege den Brecht beiseite und beginne, Cibulka zu lesen. Fest steht, er wird mich begleiten, immer und immer wieder. Die Orientierung am Zeitlosen ist ein Maß, das anzulegen wir nie vergessen dürfen.

Beim Lesen von Hanns Cibulka

Welch eine Weitsicht
Aus Ahnung und Wissen
Unter sterbenden Bäumen.
Wandernd im tiefen Grund
Der Seele. Ohne jegliche
Anklage die Gewissheit
Der eigenen Vergänglichkeit.
Und vollkommene Klarheit
Auch darüber, dass wir
Lesend Sehende sein könnten.
Für Sekunden aufscheinende
Erkenntnis aus Worten.
Aus Vergangenem lernend
Fackelträger werden, hoffend
Auf eine Zukunft im Licht.

Und doch ...

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Geschrieben von

Matthias Stark

Autor von Lyrik, Prosa und Essay

Matthias Stark

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