Wohnungen bauen, „so viel, so schnell, so gut und so billig wie möglich“, sei das Ziel, dem alles sich unterzuordnen habe – das ist das Erste, was Brigitte Reimanns Romanheldin Franziska Linkerhand von ihrem Chef im Baukombinat gesagt bekommt. Der Text des „Wohnungsbauprogramms der DDR für die Jahre 1976 bis 1990“, das Anfang Oktober 1973 vom SED-Zentralkomitee beschlossen wird, braucht sehr viel mehr Worte, um eine sozialistische Utopie zu formulieren: die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990. Dazu wird ein komplexes industrielles Programm entworfen, denn am Vorhaben, drei Millionen Wohnungen zu bauen, sind nicht nur das Bauwesen und die Baustoffindustrie, sondern auch der Maschinenbau, die Energiewirtschaft beteiligt. Letztlich ist fast die gesamte Volkswirtschaft gefragt.
Die Wohnungsfrage war schon immer Kern der sozialen Frage. Seit der Frühzeit des Manchesterkapitalismus beschäftigten sich liberale Sozialpolitiker mit dem Wohnelend proletarischer Schichten. Sie wollten gesunde Rekruten und kräftige Lohnarbeiter für Militär und Fabrik. Für die Arbeiterbewegung war die Wohnungsfrage Teil ihrer Kapitalismuskritik. Für Friedrich Engels stand fest, dass Wohnen zu den elementaren Lebensbedingungen gehört, auf die jeder ein Grundrecht hat. Die Wohnung durfte keine Ware sein. Die Förderung privaten Wohneigentums, ein Grundelement sozialliberaler Politik, war für Engels eine Taktik, dem „doppelt freien Lohnarbeiter“ eines wesentlichen Teils seiner sozialen und politischen Unabhängigkeit zu nehmen. „Verschafft ihnen eigne Häuser, kettet sie wieder an die Scholle, und ihr brecht ihre Widerstandskraft gegen die Lohnherabdrückung der Fabrikanten“, schrieb er 1872. Später sollte der Bausparvertrag den „rheinischen Kapitalismus“ entscheidend stabilisieren.
Der industrialisierte Wohnungsbau lief in der DDR bereits seit Baubeginn in Halle-Neustadt 1964 auf Hochtouren. Die städtebaulichen Defizite dieser Bauweise – das „Diktat der Kranfluchten“ – kritisierte der Leipziger Architekturhistoriker Thomas Topfstedt bereits früh.
Die ersten Großsiedlungen in Eisenhüttenstadt, Schwedt, Hoyerswerda oder Halle-Neustadt dienten noch dazu, Belegschaften von Großbetrieben mit Wohnraum zu versorgen. Mit dem VIII. SED-Parteitag wird daraus 1971 ein allgemeines Sozial- und Konsumprogramm – bis 1973 ein konkretes Anwendungsfeld der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. War es bis dahin Kern der Baupolitik, kriegszerstörte Stadtzentren zu sanieren oder zu modernisieren, verschob das Wohnungsbauprogramm das Bauen auf die grünen Wiesen an den Stadträndern. Es begann eine 15 Jahre dauernde Phase vernachlässigter Innenstädte. Die schlimmsten Beispiele konnten in Leipzig besichtigt werden. Eine interessante Variante, mit diesem Fiasko umzugehen, gelang dem Bernauer Stadtarchitekten Wilfried Stallknecht. Nach Flächenabrissen in der maroden Innenstadt entstand zwischen 1974 und 1984 eine angepasste Platten-Bebauung, die – wie sich heute zeigt – zu einer neuen Qualität des innerstädtischen Raums führte.
In der Ausstellung Radikal modern (2015) in der Berlinischen Galerie steht eine Gruppe von Schülern vor einer Wand mit Fotos von Neubaublöcken. Eine Museumspädagogin fordert dazu auf, zu sagen, welche der Fotos in Ost-, welche in Westberlin entstanden seien. Die 16-Jährigen schauen auf die vielstöckigen Gebäude, sehen überall nur die „Platte“, wie sie im Gemeinschaftskunde-Unterricht als DDR-Alleinstellungsmerkmal behauptet wird, zeigen auf ein paar Fotos und sagen „Osten“. Es stimmt nur bei der Hälfte der Fälle.
Im Westen wurde neben der Strategie, privates Wohneigentum zu fördern, auch auf sozialen Massenwohnungsbau gesetzt. Die Banlieue von Paris, Barbican Estate mitten in London, die Gropiusstadt und das Märkische Viertel in Berlin (West) sind Beispiele dafür.
Die Modernität der Gesellschaft und der Kultur, der Lebensweisen und Stadträume war in der DDR der späten 1960er Jahre noch eher insularisch, punktuell. Die neue Karl-Marx-Allee und der Alexanderplatz in Berlin (Ost) mit ihren exemplarischen Solitärbauten stellten eher ästhetische Refugien dar als geläufige Lebensräume moderner Urbanität. Das „Ankommen (der Moderne) im Alltag“ (Brigitte Reimann) sollte Gebiete des Massenwohnungsbaus nach neuen Bautechnologien hervorbringen. Viele linke Denker, der DDR-Philosoph Lothar Kühne etwa, sahen einen Zusammenhang zwischen privateigentumsfreier Lebensqualität, der Produktionsweise und der Ästhetik gegenständlicher Bedingungen des Lebens wie der Wohnung. Baukastensysteme, rationelles Bauen, flexible Grundrisse erforderten eine Ästhetik, die als Waren-Styling nicht geeignet war. Kühne sprach von der „kommunistischen Potenz der Serie“. Andere nennen es Monotonie.
Im Westen war es der rechtskonservative Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler, der den jungen linken Radikalen die Tendenz bei der Kritik des Wohnungsbaus vorgab: Sozialer Massenwohnungsbau „mordet“ die Stadt – und zwar die idyllisch historistische wilhelminische Stadt. Gegen die Pläne seines Freundes Albert Speer, das noch vorhandene wilhelminische Berlin für sein monströses „Germania“ abzureißen, war er indes wesentlich milder gestimmt. Der linke Humanist Alexander Mitscherlich bezeichnete den sozialen Wohnungsbau als „geplante Slums“ und sprach von „Monotonie an den Ausfallstraßen“. In den kunsthandwerklich dekorierten Altbau-Wohnküchen der DDR-Opposition und der Westberliner 68er kümmerte man sich kaum um die Wohnungsfrage als soziales Problem. Hier ging es vor allem um Distinktion.
Die Kritik an der neuen massenhaften Bauweise beginnt auch in der DDR sofort. Das erste herausragende Beispiel ist Franziska Linkerhand, das nachgelassene Romanfragment von Brigitte Reimann. Die Verfilmung von Lothar Warneke (Unser kurzes Leben, 1981) spitzt den facettenreichen Roman auf das Problem des Massenwohnungsbaus zu. Die Neubaugebiete werden sarkastisch „Siedlungen von Fernsehhöhlen“ genannt. Die junge Architektin Linkerhand sieht im „industrialisierten und typisierten Wohnungsbau“, den ihr Chef Schafheutlin als unverzichtbar ansieht, nur eine „stupide Aufreihung von Blöcken“. Ihr Ideal ist die „Stadt als Vermittlerin von Kultur“. In Filmen wie Einzug ins Paradies (DDR-F 1983) und Insel der Schwäne (Defa 1983) werden endlich die Bewohner der neu gebauten „Platten“ selbst zu Akteuren. Das Leben im „Neubau“ ist problematischer Alltag geworden. In den „Architekten“-Romanen und -Filmen redete man nur über seine Protagonisten und sah sie als passive Opfer ihrer Wohnbedingungen an.
Die Jugendlichen und Erwachsenen im Plattenbaugebiet des Films Insel der Schwäne leben alle Facetten zwischen Widerstand und Anpassung. Mit dem Anspruch, die eigenen Lebensumstände nicht fürsorglich zugewiesen zu bekommen, sondern mitgestalten zu wollen, scheitern sie. Damit ist das Dilemma dieser letztlich autoritären Sozialpolitik, die sich auch im Wohnungsbauprogramm ausdrückte, auf den Punkt gebracht. Wohnungen, „so viel, so schnell, so gut und so billig wie möglich“, reichten eben nicht. Und trotzdem steckt in diesem Scheitern eine Tragik. Die Wohnungsfrage ist heute wieder offen. Es gehen kurz vor dem 100-jährigen Jubiläum der Gründung des Bauhauses viele Konzepte um, die sich damit auseinandersetzen. Ein Stichwort lautet „informelle Urbanisierung“, die auf die Kreativität der Wohnenden setzt. Eines ist offensichtlich, die neue Krise der Wohnungssituation ist nicht von monotoner oder sonst wie falscher Architektur verursacht worden. Sie trat folgerichtig ein, als die Wohnung wieder zur Ware – durch ungeregelte Gentrifizierung zur Luxusware wurde. Wie man in der Ostberliner City oder im Londoner Barbican Estate beobachten kann, macht dieser Trend auch vor den Arealen sozialistischer oder liberaler Wohnungsbauprogramme nicht halt.
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