Wie man eine Ausstellung macht, in der sich Besucher:innen selbst ein Geschichtsbild verschaffen können – das führt uns das Kunstmuseum Moritzburg in Halle seit geraumer Zeit vor. Wer wissen will, was ein Künstler im 20. Jahrhundert war, besonders in seiner zweiten Hälfte, der sollte in diese Retrospektive gehen. Sie statuiert uns ein Exempel: Willi Sitte. Kurator Thomas Bauer-Friedrich nennt dessen Leben eine beispielhafte Aufsteiger-Biografie und die Geschichte eines Generationskonflikts, bei der der Angehörige einer aufbegehrenden Generation allmählich Teil einer unterdrückenden wird.
Willi Sitte, Maler und Zeichner, Hochschullehrer, Parteifunktionär und Kunstpolitiker, vor 100 Jahren in Tschechien geboren, Sohn kommunistischer Eltern, Wehrmachtssoldat, Deserteur und Unterstützer der Partisanen in Italien, kam 1947 nach Halle und verbrachte sein Künstlerleben in dieser Stadt, wo er 2013 starb. Er gehörte neben Tübke, Heisig und Mattheuer zur „Viererbande“ der einflussreichsten Maler in der DDR. Die Retrospektive präsentiert ihn als großen Künstler, der am Widerspruch von Kunst, Politik und Macht so scheiterte wie sein Staat, die DDR.
Nur ein halber Marxist
Vier Kurator:innen – neben Moritzburg-Direktor Bauer-Friedrich die Kunsthistoriker:innen Paul Kaiser, Dorit Litt und Eckhart Gillen –, haben diese Ausstellung in fünf Jahren Arbeit zuwege gebracht. Allein die Bilder zu hängen hätte keine neue Sicht auf dieses Künstlerleben ermöglicht. Die Ausstellungsdramaturgie folgt einer biografischen Chronologie, untersetzt aber die Lebensabschnitte immer wieder thematisch: frühe künstlerische Prägungen, nachholende Auseinandersetzung mit der Moderne, Auftragswerke für die Partei, Krach mit ihren Funktionären, „Liebesbilder“, Historien- und Propagandabilder, Selbstbefragung nach Scheitern und Machtverlust. Dazu viele Texttafeln, dezent, aber unübersehbar neben den Bildern platziert.
Der zweite Ausstellungsteil beginnt mit Text und Fotostrecken zu Sittes Karriere als Kunstverbandspräsident. Im großen „White Cube“ des Museums hat man dann den ganzen Sitte noch einmal in Übergröße um sich. Die Mehrtafelbilder bekommen hier den Raum für ihre schiere Größe, den sie früher auch im Bedeutungsraum der Kunst der DDR hatten. Wir stehen klein vor den Werken, mit denen Sitte seine Anklage an Krieg und Gewalt in der Welt politisch immer genau und selbstgewiss adressiert. Vom verschollenen Lidice-Triptychon (hier in einer fotografischen Reproduktion vertreten), das seine Kraft noch aus einer malerischen Komposition schöpft, bis hin zu Beispielen von Sittes Historienbildern, die sich oft als vordergründige Illustration der Geschichtsauffassung der SED zeigen. Eines überrascht doch: Sitte, der Kommunist, war ein historischer, aber kein dialektischer Materialist, nur ein halber Marxist also. Das derbe Gut-böse-Schema einiger dieser Bilder verrät es.
Eine weitere Irritation erzeugen Bilder wie die Erdgeister von 1990, die Sittes enttäuschte Abwendung von einer Arbeiterklasse zeigen, der er kurz zuvor noch als siegreichem Subjekt der Geschichte gehuldigt hatte. Auf Konsumlust und D-Mark-Hoffnung in der Wendezeit reagiert er mit Liebesentzug und drückt das in Bildern der Verachtung aus. Genau so, wie er zuvor als Kulturfunktionär das „Fehlverhalten“ junger Künstler mit der Macht überväterlicher Autorität geahndet hatte. Einem Sitte steht die dialektische Sicht Bert Brechts nicht zur Verfügung, der nach dem Arbeiteraufruhr am 17. Juni 1953 nicht das „Volk“ gescholten, sondern die Parteiführung ermahnt hatte.
Die Ausstellungsmacher:innen beschreiben Sittes Abkehr, sie sehen aber nicht diese Brisanz des Moments. Der Künstler und Funktionär wird als jemand gesehen, der der falschen Ideologie diente – und nicht etwa als jemand, der der sozialistischen Idee falsch gedient hat.
Einen Bereich in Sittes Schaffen gibt es, der nicht vordergründig politisch war und trotzdem sehr kontrovers aufgenommen wurde. Das sind seine Darstellungen füllig-dynamischer Körper. Den Spruch „Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt“ haben allerdings wohl nicht die geprägt, die ihre Körperwelten so dargestellt sahen. Der könnte eher von Kurt Masur stammen, dem Leipziger Gewandhauskapellmeister, der das Auftragswerk Rock-Sänger nicht in seinem hehren Tempel an der Wand sehen mochte. Der nackte, schmerbäuchige Rockmusiker mit E-Gitarre und Putten-Pimmel war einer von vielen Aufregern. Für einen Kurt Masur genauso wie für die Rockstars, die sich auch damals schon lieber als Muskelkerle mit Großschwanz dargestellt sehen wollten.
Diese Körperbilder sind „realistisch“, weil sie den Menschen von allen Hüllen und Masken entkleiden, auch von solchen, wie sie für Selbstdarsteller heute via Photoshop und Filtern verfügbar sind. Noch nie waren die realen Körper so versteckt wie heute und selten so entblößt wie bei Sitte.
Beim Gang durch die gut besuchte Ausstellung kann das alles sehen, wer es sehen will. Denn sie zeigt mehr, als sie sagt.
Info
Sittes Welt Kunstmuseum Moritzburg, Halle, bis 9. Januar 2022
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.