Der Erste war der Apostel Paulus. In jüngerer Zeit wurden die Blues Brothers und die Toten Hosen dafür bekannt, „im Auftrag des Herrn“ ziemlich herumzukommen. Jetzt hat es die Sentenz in den Titel einer Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle geschafft: Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert.
Bekanntlich war das Reisen damals sehr beschwerlich. Im 21. Jahrhundert hat sich daran nicht viel geändert. Das mussten etwa die jungen Menschen in ihren Kunstfaser-Anime-Kostümen, die am 17. März auf die Buchmesse in Leipzig strebten, genauso wie die seriös in feinere Tuche gekleideten, meist nicht mehr so jungen Leute, die man eher zu den Liebhabern des gedruckten Wortes zählen muss, vor Kälte zitternd schmerzlich erfahren. Ein paar Zentimeter Schnee und Minustemperaturen im höheren einstelligen Bereich sorgten dafür, dass es in Halle nicht mehr vor und zurück ging. Was kann der sitzen gelassene Pilger tun?
Auf die einzige unabhängige Art des Reisens, per pedes nämlich, macht er sich auf den Weg zu den vom Hallenser Bahnhof nur 15 Gehminuten entfernten Franckeschen Stiftungen, in die Ausstellung.
Leben first, Theorie second
Schon nach den ersten Schritten gerät der riesige, exzellent restaurierte Fachwerkkomplex des Waisenhauses aus dem späten 17. Jahrhundert in den Blick. August Hermann Francke (1663 – 1727), Universitätsprofessor, Theologe und Pfarrer, gründete es 1691 als Armenschule im damals noch immer unter den Folgen des 30-jährigen Krieges leidenden Halle. Man könnte es ein Haus der angewandten Ideologie nennen. Armenfürsorge, Bildung, strenge moralische Erziehung – alles, um dem Herrn zu dienen und dem in der Modernisierung befindlichen preußischen Staat treue und regsame Untertanen heranzuziehen.
Der Pietismus war die moralisch strengste, gleichzeitig aber auch die damals modernste unter den christlichen Konfessionen. Das Waisenhaus ist nicht nur eine Versorgungs- und Bildungsstätte, sondern auch eine im Sinne der barocken Kameralistik organisierte präkapitalistische Wirtschaftseinheit. Den Schlussstein im neu entstehenden Gebäude der bürgerlichen Produktivität bilden die Wissenschaften, das Erforschen des noch Unbekannten. Während die 1694 eröffnete hallesche Universität sich der Theorie verschrieb, orientierte Francke seine Lehrer und Geistlichen auf das Erkunden des praktischen Lebens und ferner Länder.
Die Ausstellung erzählt in sieben Kapiteln vom pietistischen Reisen. Thema sind jeweils konkrete Exkursionen. Francke selbst bereist Süddeutschland, um den Pietismus zu verbreiten. Andere Reisen führen in das Osmanische Reich, nach Ägypten und Jerusalem. Dabei stehen missionarische Anliegen und das Sammeln von interessanten Objekten im Vordergrund. Eine Exkursion in die Niederlande erkundet im zu der Zeit fortschrittlichsten Land der Welt staatliche und kirchliche Waisen-, Armen- und Zuchthäuser. Die „Medikamenten-Expedition“ unternimmt Werbe- und Verkaufsreisen, die die Kreationen der hauseigenen Apotheke bis nach Indien bringen – mit handfester kommerzieller Intention. Reisen nach Böhmen dienen der Unterstützung der dort verfolgten Protestanten.
Missionieren, Erforschen, Sammeln, Handeln, Politikmachen – diese Motive des pietistischen Reisens zeigen dem Besucher dieser mit hochwertigen Exponaten ausgestatteten Ausstellung einen Aspekt der frühen Geschichte der Globalisierung.
Bevor der Besucher in die Ausstellungsräume gelangt, wird er im originalen hölzernen Treppenhaus mit Comic-haften Grafiken an der Wand über das touristische Reisen in der Gegenwart informiert. Wohin und womit reist der urlaubsreife Konsument, wie viel Geld gibt er dafür aus, was nimmt er mit, was bringt er heim? Erholung und Spaß – Erleuchtung eher weniger – sind seine Motivationen, sie mögen eingelöst werden oder nicht. Hans Magnus Enzensbergers berühmte Theorie des Tourismus hatte schon 1958 die Verwandlung des ursprünglichen missionarischen, abenteuerlustigen und bildungshungrigen Reisens in ein warenästhetisch gestyltes Kosumangebot beklagt. Die hallesche Ausstellung hat mit diesem konsumistischen Reisen scheinbar nichts zu tun. Das Intro erzeugt falsche Erwartungen – und zum Schluss einen Aha-Effekt. Die Reiseprojekte des Pietismus sind frühe Impulse der Globalisierung der Moderne, die auch den weltweiten Tourismus hervorbrachte.
Mit Mut im Herzen und in der Hodosophie (Wegweisheit) nun belesen, tritt der Besucher in die letzte Abteilung der Ausstellung, betitelt: „Reise ins Ich“. Hier erwartet ihn – er selbst, sonst nichts. Pietistische Didaktik 2018? Man wandelt ein paar Meter in engen Gängen zwischen hinterleuchteten milchig weißen Wänden und deckenhohen Spiegeln. Immerhin Gelegenheit für ein Spiegelbild-Selfie.
Ganz gemütlich im Warmen beendet der Ausstellungstourist dann seine Selbstreflexion schräg gegenüber von den Stiftungen, im letzten „Ein Kännchen bitte!“-Kaffeehaus der Stadt. Dann geht’s zur Kutsche, äh, zum Fernbus.
Info
Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert Franckesche Stiftungen zu Halle Bis 16. September
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