Sehnsüchtig wartet die Zeitung mit den großen Buchstaben auf den Tag, an dem „Kult-Regisseur“ Fatih Akin endlich seinen Film nach dem „Megabestseller“ Tschick des „leider schon 2013 verstorbenen Autors Herrndorf“ in die „deutschen Kinos“ bringt. Bis dahin „versüßt“ man sich die Wartezeit damit, „noch ein paarmal“ die Trailer anzuschauen.
Kann man über einen Film, den man in Gänze erst zu sehen bekommt, nachdem man monatelang über alle Kanäle geteasert worden ist, überhaupt noch was Unvoreingenommenes schreiben?
Wenn es da draußen jemanden gibt, der nicht weiß, wer Wolfgang Herrndorf war, der keinen seiner Romane, Romanfragmente oder gar Arbeit und Struktur gelesen hat, der rein zufällig in eine Vorstellung von Tschick gerät – bitte bei mir melden! So einen Menschen möchte ich nach seiner Meinung über den Film fragen! Okay, so jemanden gibt es nicht, denn es gibt keine Eremiten mehr.
Tom Sawyer im Roggen
Also bleibt mir nur Autosuggestion. Ich lasse mich in die Polster des Kinosessels sinken und murmle mein Mantra: Ich kenne keinen Herrndorf, halte nix von Arbeit, bin unfähig zur Struktur, hab noch nie was über Tschick gelesen oder gehört, Fatih Akin, wer ist denn das? Das Licht geht aus, das hilft weiter. Dann geht das Licht wieder an, und die Dame von der Agentur, die das Screening organisiert hat, fragt mich, wie ich es denn fand. Ja, hat mir gut gefallen, ist meine Antwort.
Und sie ist völlig ehrlich gemeint! Prima Film. Wie der stonewashed-blaue Lada Niva durchs vergilbt-grüne Maisfeld rauscht. Wie der schmutzig-schwarz getünchte Lada über den graubraunen Knüppeldamm brettert. Wie der Talmi-Hit Pour Adeline in dem kaputten Autokassettenspieler geschreddert wird. Die Erwachsenensprache parodierende Ausdrucksweise des einen Helden, das niedliche Genuschel des anderen. Eine sympathisch nonkonformistische Alkoholikermutter, ein unsympathisch fremdgehender Maklerpapa. Das jugendlich-weibliche Element in erkennbar alternierender Ausführung. Das Wort „ficken“ wird ungeniert ausgesprochen. Der Soundtrack treibt alles mit flotten E-Gitarren und flowigem Hip-Hop voran und nervt nicht mit bedeutungsvollen Lyrics. Eine Freundschaft entwickelt sich. Lustig. Rührend.
So weit gekommen, gestatte ich mir den Gedanken, dass ich den Tschick ja doch schon gelesen hatte. Roman verschlungen, Kino im Kopf gehabt – aber so was ist mir noch nie mit einer Literaturverfilmung passiert: Kopfkino und Kinobilder sind identisch! Dieser Fatih Akin ist ein Genie. Der weiß genau, was ich sehen will. Zurück im öffentlichen Raum der Großstadt löst sich der imaginierte Zustand unwissender Unvoreingenommenheit rasch wieder auf. Plakate, Trailer, Fernsehberichte, Newsfeeds, Zeitschriftenartikel, Interviews – alles ruft Tschick!
Ich habe gerade die lang ersehnte Verfilmung eines Zwei-Millionen-Bestsellers gesehen. Wolfgang Herrndorf ist ein wichtiger deutscher Autor des 21. Jahrhunderts. Der Regisseur Fatih Akin spricht in Interviews voller Ehrfurcht über ihn. Youtuber arbeiten sich am Thema ab. Das alles ist so bedeutungsvoll, die Erwartung hoch. Und dann kommt auch noch ein Sack voller jugend- und popkultureller Bezüge ins Spiel.
Wir haben es mit einer neuen Tom-Sawyer-und-Huck-Finn-Geschichte zu tun. Der Fänger im Roggen. Nordsee ist Mordsee (Hark Bohm, 1976). Und der leider kaum bekannte Film Fernes Land Pa-isch (Rainer Simon, 1993). Regisseur Akin selbst sieht seinen Film in der Tradition von Hark Bohm, lud ihn zur Mitarbeit am Drehbuch ein. Der Darsteller des unsympathischen Vaters von Tschicks Kumpel Maik ist Uwe Bohm, der im Vorbildfilm den Uwe verkörperte, den Freund des Dschingis.
Was nicht passt
Ob Wolfgang Herrndorf die Verfilmung gefallen hätte? Na, ich bin mir sicher, er dreht sich nicht im Grabe um. Tschick ist okay. Aber er hat ja am Stoff weitergearbeitet. Das Fragment Bilder deiner großen Liebe zeigt eine Isa, wie sie dem Film vielleicht über den toten Punkt einer glatten Romanverfilmung hinweggeholfen hätte. Diese Isa hat viel mehr von Uwe und Dschingis aus Nordsee ist Mordsee als Maik und Tschick. Bohms Film zeigt die Realität proletarischer Kindheit im späten 20. Jahrhundert. Tschick hätte den Niedergang der behüteten Mittelschichtkindheit im frühen 21. Jahrhundert zeigen können.
Das geplante symbolträchtige Wiedersehen der drei nach 50 Jahren erscheint als nettes, zukunftsfrohes Gedankenspiel. Das werden bestimmt einmal prächtige Erwachsene. Aber für Isa ist das keineswegs vorbestimmt. Isa ist nicht nur Opfer von Vernachlässigung, sie ist Objekt von Macht, Ausbeutung, Missbrauch. Nur für Isa geht es ums Überleben. Jugendkulturen und pubertäres Aufbegehren dienen als Medien eines coming of age, das Integration in die Erwachsenengesellschaft bedeutet. Das ist der soziale Zweck der Übung. Die Outsider und Psychos brechen aus und kehren als kleine Popstars zurück – nun werden sie zu den angesagten Partys eingeladen.
Aber einige Aufbegehrer sind so verletzt und darum konsequent nonkonform, dass sie scheitern müssen, dass sie schlicht kaputtgehen, weil sie nicht passen. Die Tschick-Film-Frage, ab wann der junge Mensch strafmündig ist, wie lange er das pubertäre Aufbegehren ohne Konsequenzen zelebrieren darf, ist eine stockkonservative. Als ob es darum ginge! Die Frage ist vielmehr: Kann der junge Mensch in der Mordsee untergehen – und warum? Von dieser Gefahr, diesem Ernst der Lage, zeigt der Film nicht viel. Und deshalb wird er allen gefallen. Jeder erkennt den Jungen in sich. Und bald treffen wir uns wieder. Das wird ’ne Party!
Info
Tschick Fatih Akin D 2016, 93 Minuten
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