Eine Köchin. Sie steht da, gerade, hochgewachsen, körperlich präsent, schaut den Fotografen an, schaut uns an, selbstbewusst, ruhig abwartend, sie nimmt sich nicht zurück, biedert sich aber auch nicht an. Eigentlich: stolz! Aber voller Unruhe: Was wird jetzt kommen? Das Foto ist nur einige Monate nach dem spielverderberischen Auftritt von Heiner Müller auf der sonst so euphorisch gefeierten Großdemo vom 4. November 1989 aufgenommen worden. Müller verlas da einen Aufruf zur Gründung freier Gewerkschaften, in dem Arbeiter über ihre Zukunftsaussichten sprechen: „Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken.“ (…) „Entlassungen drohen. Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen.“
Wir schreiben das Jahr 1990. Stefan Moses, geboren 1928, aus München, ist im Osten, der Noch-DDR, unterwegs. Er spannt an vielen Orten seine graue Leinwand auf und bittet Menschen verschiedener Berufe, davor mit ein paar Insignien ihrer Arbeit zu posieren. Man denkt sofort an August Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts. Dessen Anliegen, ein Kompendium der Menschen aller Schichten und Berufe anzufertigen, griff Moses in der zweiten Jahrhunderthälfte auf, allerdings zunächst nur mit Zugang zu den Westdeutschen.
Rund ein Drittel der in der Ausstellung präsentierten Künstlerinnen sind west-gebürtig oder -sozialisiert. Die Zeit der „reinen Ost-Ausstellungen“ sei vorbei, konstatieren die Kuratorinnen T.O. Immisch, Gabriele Muschter und Uwe Warnke und erklären den Ausstellungstitel Ins Offene nicht nur mit der neuen Bewegungsfreiheit für die Ex-DDR-Künstler, sondern auch mit den Möglichkeiten für Westdeutsche, unbehindert den Osten zu entdecken.
Sanierung, Altern, Lifting
Ein Bezug zur Ausstellung Geschlossene Gesellschaft, die Fotokunst in der DDR aus den Jahren 1949 bis 1989 präsentierte, drängt sich auf. Sie war 2012 von Immisch und Muschter gemeinsam mit Ulrich Domröse für die Berlinische Galerie kuratiert worden und beeindruckte allein schon wegen der Vielfalt der Handschriften und Konzepte, mit der technischen Apparatur der Kamera Bilder herzustellen. Sie vermittelte aber auch einen faszinierenden Eindruck von einer kreativen Nischenwelt im sozialistischen Staat DDR, die sich von allen heroischen Hoffnungen freigemacht hatte und genau deshalb eine sozial relevante Kunst hervorbringen konnte. Im staatlichen Kunstbetrieb der DDR genoss die Fotografie als Kunstform kaum Wertschätzung. Dass sie bewahrt wurde, ist Kuratorinnen wie Domröse in Berlin, Ulrike Stöhring in den Cottbuser Kunstsammlungen und Immisch in Halle zu verdanken, die in den späten 1980ern mit Eigensinn und Staatsgeld DDR-Fotokunst sammelten.
Können Fotos Handlung und Beziehungen zeigen? Können sie jenseits von „Abbilden“ und „Bilden“, wie T.O. Immisch den Unterschied von Gebrauchsfotografie und künstlerischer Fotografie benennt, etwas darstellen? Machen wir uns doch unser eigenes Ausstellungsdrama, einen Episodenfilm aus unerhörten Begebenheiten der jüngeren Geschichte. Stefan Moses’ stolze Cottbuser Köchin könnte dann die Mutter von Grit aus Leipzig sein. Die Selbstporträt-Serien der Künstlerin Grit Hachmeister verlangen dem Konsumenten ge-photoshopter Bilder attraktiver Frauen mit perfekt reiner Haut einiges ab. Hachmeister spielt mit Androgynität, verhöhnt geradezu die Vorstellung der normgerecht adretten, hübschen Erscheinung junger Frauen. Sie präsentiert sich als der Körper, der sie ist. Im wahrsten Sinne des Wortes ungeschminkt, „unrein“ wie ein renitentes Kind. Ihre Fotos zeigen den jungen Menschen als fremden, verdächtigen, beunruhigenden, gar bedrohlichen Körper, wie er unter autoritären Bedingungen immer versucht wurde unter Kontrolle zu bringen. Frappierenderweise verstört er aber auch in Zeiten der kulturellen Indifferenz, des „anything goes“ immer noch, oder wieder. Der Stolz der Köchin taugt für Grit nicht mehr. Hier ist keine ruhige Souveränität, hier ist Verletzung, Trotz und Aggressivität. Der Makel wird zum Aufruhr, wenn die Diktatur der Makellosigkeit herrscht. Grit, wir kriegen dich, nennt Hachmeister ihre Fotoserie. Und hier sehen wir tatsächlich eine Kontinuität der Fotokunst vor und nach 1990 im Osten.
Die Menschen, die Stefan Moses 1990 vor die Kamera stellte und die etwa ein Gerd Kroske in seiner Kehraus-Trilogie noch zeigen konnte, sind aus dem Schlaglicht der Medien verschwunden. Wenn sie doch auftauchen, sind sie die anderen und stehen unter Verdacht.
Die Fotos von Karl-Ludwig Lange, der zwischen 1990 und 2003 die Bölschestraße in Berlin-Friedrichshagen dokumentierte, erzählen uns entgegen unseren Erwartungen nicht von einer Reise aus der „geschlossenen Gesellschaft“ „ins Offene“. Sie zeigen einfach eine Veränderung. Die man auf den Schwarz-Weiß-Fotos der Serien erst bei genauerem Hinsehen erkennt. Die Autos vor den Gründerzeithäusern sind schicker und größer, die Fassaden renoviert, Balkone restauriert. Lange aber erspart uns mit seiner Entscheidung gegen die Farbfotografie dieses plauzige Aha-Erlebnis der üblichen Früher-heute-Bildbände, die zum Stadtmarketingrepertoire besonders ostdeutscher Städte gehören. Die Häuser seiner Bölschestraße scheinen uns zu sagen: Alles nur Fassade, wir sind noch die Alten. Verfall und Sanierung, Altern und Lifting – so geht das Leben.
Es sind zwei Hallenser Local Heroes in der Ausstellung vertreten: Rudolf Schäfer und Emanuel Mathias. Letzterer war einige Jahre lang der Assistent des Ersteren, der als Professor an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein den Masterstudiengang Fotografie begründet und jahrelang geleitet hat. Es ist bedauerlich, dass der Studiengang nach Schäfers Weggang ohne Not eingestellt wurde. Von Mathias sehen wir eine per Karussellprojektor aufgeführte Choreografie von echauffierten türkischen Männern mit Mobiltelefonen am Ohr auf dem Istanbuler Goldmarkt. Schäfer verdiente sich die Meriten am Anfang seiner Karriere mit dem Projekt Der ewige Schlaf, Porträts Verstorbener in der Berliner Charité. In Halle ist er mit einer größeren Serie von Doppelporträts (frontal und im Profil) junger Frauen Anfang 20 aus vieler Herren Länder (von Deutschland über Syrien bis China) vertreten. The Pending Beauty nennt Schäfer sein Projekt. Frische jugendliche Schönheit, kaum different, ohne Makel. Unsere Grit würde hier nur stören.
Gabriele Muschter betont in ihrem Essay im Katalog noch einmal die konventionelle Auffassung von der Fotografie, die „dem Augenblick Dauer“ und „statische Erhabenheit“ verleihe, die „die kurzlebige Erscheinung dem Gang der Zeit“ entziehe. Sowohl sie als auch Immisch heben den Bildcharakter der Fotografie hervor, also den Umstand, dass im Foto ein Moment als Synchrongestalt fest(!)gehalten scheint. In der bildenden Kunst ist aber schon lange eine Tendenz ins Diachrone, Fragmentarische, Nicht-(Ab)bildende, sondern Darstellende zu beobachten. Dass das auch für Fotografie gilt, bezeugt die Hallenser Ausstellung.
Wenn die großformatige Montage von vier gespiegelten Varianten des fast monochrom roten „Bildes“ eines Vorhangs (Thomas Florschuetz) den Betrachter, seine Bewegungen, andere Bilder der Ausstellung und die Lichtverhältnisse im Raum spiegelt, dann hat sich diese fotografische Arbeit im Gesamt der Situation und ihres Geschehens aufgelöst oder in sie eingepasst. Ist selbst dabei zu einem Element der wandelbaren Situation geworden.
Hans-Christian Schinks Arbeiten, 60-minütig belichtet mittels Lochkamera, zeigen im Synchronen des Fotos das Diachrone eines einstündigen Geschehens. Noch extremer komprimiert ist Bewegung, ist Geschehen in den Fotos von Michael Wesely, der in Berlin mittels über Monate festinstallierter Lochkameras am Potsdamer Platz und am Palast der Republik das Entstehen und das Verschwinden von Gebäuden in einem Foto darstellt. Der Vorgang der Herstellung des Bildes erscheint selbst im Bild.
Auf eine andere Art narrativ sind die Fotos von Ingar Krauss. Sie scheinen das Heranwachsen eines Kindes zur jungen Frau zu dokumentieren und wirken dabei merkwürdig inszeniert. Und dann die Überschrift: Von den Kindern weiß man nichts. Zitiert wird der Titel des Debütromans der damals 28-jährigen italienischen Autorin Simona Vinci. Sie schildert lapidar, wie pubertierende Jugendliche sich selbst dabei überlassen sind, ihren Körper und ihre Sexualität zu entdecken und zu erproben, und dabei Gefahr laufen, in die gewaltförmigen Muster einer allgegenwärtigen rape culture abzugleiten. Die Eltern wollen, können und dürfen nichts wissen. Ihre Kinder gehen ihnen und sich selbst verloren.
Im dritten Teil der Ausstellung scheint der Besucher von allen Menschen verlassen. In den Fotos sind sie abwesend. Leere Räume mit gebrauchten Möbeln, eigentlich Rauminstallationen (Ricarda Roggan). Rätselhafte Stillleben, Landschaften und Räume (Ute und Werner Mahler). Die Menschen haben ihre Spuren hinterlassen. Aber es sieht nicht so aus, als würden sie zurückkehren.
Info
Ins Offene. Fotokunst im Osten Deutschlands Kunstmuseum Moritzburg, Halle, bis 16. September
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