Vielleicht ist das die beste Art, Stadt zu erleben: Gehen Sie bei nasskaltem Märzwetter, wenn möglich im Nieselregen, die Audio-Walks dieser Ausstellung über Ost- und Westberliner Architekturen der 1980er Jahre. Jede Beschönigung, jede Ablenkung durch Grün, Vogelzwitschern und Sonnenschein entfällt. Sie sehen die unverfälschte Substanz der Gebäude und Wohnareale. Lockdown heißt auch: Man ist mehr zu Hause – drinnen statt draußen. Dem Spaziergänger kommt der Gedanke, dass den Leuten Wärme und Licht in ihren Häusern wichtiger sein könnten als deren äußerer Anblick. Das ist das Manko solcher Führungen: Man kriegt nur das Außen, im besten Fall zu dem Davor noch das Dahinter, zu sehen. Kann eine Ausstellung mehr leisten?
Anything goes? heißt die Präsentation in der Berlinischen Galerie, und sie versucht es an vielen Stellen. Es gibt natürlich eine Vielzahl an Plänen, Fotografien und Modellen zu sehen. Sie bieten sich aber nicht als Gesamtbild an, sondern als Fragmente zum Selbercollagieren. Man kann zuhören, wie Bewohnerinnen des Wohnhofs Lima in Kreuzberg oder der Siedlung Ernst-Thälmann-Park in Prenzlauer Berg vom Leben in ihren Häusern erzählen. Es zeigt sich eine überraschend ähnliche Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld auf beiden Seiten der verschwundenen Mauer.
Die Filme im Kinoraum artikulieren eine sehr viel kritischere Sicht auf das Leben im Berliner Stadtraum der 1980er Jahre. Stadtbild, ein Film von Haroun Farocki, frischt im Westberlin des Jahres 1981 die konservative Stadtkritik eines Wolf Jobst Siedler (Die gemordete Stadt, 1964) noch einmal auf. Von einem Linken wie Farocki hätte man das nicht erwartet. Sein Film besteht aus skeptischen Kommentaren zu Fotos der Nachkriegsmoderne und ehrfürchtigen Blicken auf wilhelminische Stadtvillen. Insel der Schwäne von Hermann Zschoche (1983) ist ein Film, der laut Katalog die „Trostlosigkeit und Baufälligkeit der Plattenbauten“ in Ostberlin zeige und damit die Wohnungsbaupolitik der DDR kritisiere. Eine recht klischeehafte Sicht. Eigentlich erzählt der Film davon, wie Jugendliche darum kämpfen, an der Gestaltung ihres Lebensraums beteiligt zu werden. Und scheitern.
Kollektive Bauherren
Demokratisch Bauen – das war ein Anliegen der 1980er Jahre und ist ein Grundmotiv der Ausstellung. Ein Bauen, bei dem die künftigen Bewohnerinnen als kollektiver Bauherr auftreten. Wo nach ihren Bedürfnissen gebaut wird. Wo nicht mehr das Aneinanderreihen und Übereinanderstapeln von kleinen Wohnungen für Kernfamilien als Lösung des Wohnungsproblems angesehen wird. Sondern Räume, in denen sehr divers zusammengelebt werden kann. Wo zwischen privat und öffentlich Übergangsräume geschaffen werden. In Ostberlin herrscht eher noch der Paternalismus einer staatlichen Autorität, die die Sozialpolitik und damit auch den Wohnungs- und Gesellschaftsbau als zentralistisch konzipierte und ausagierte Aufgabe ansieht. Die direkte Mitbestimmung ist nicht vorgesehen, aber wird manchmal erkämpft.
Für die Internationale Bauausstellung 1987 in Westberlin wurden folgende Grundsätze des Planens formuliert: Mit-entscheidung, neue Formen der Trägerschaft, Substanzerhaltung statt Abriss, Erhaltung der örtlichen Eigenart, neue Wohnformen ermöglichen, Begrünung von Innenhöfen, Fassadengestaltung. Was dann von Architektinnen wie Hans Kollhoff, Imken und Hinrich Baller, Frei Otto, John Hejduk, Oswald M. Ungers und anderen gebaut wurde, waren Ausnahmeprojekte, die diese Grundsätze mehr oder weniger umsetzten. Von den über Jahrzehnte tragfähigen Qualitäten dieser Gebäude und Quartiere erzählt die Ausstellung.
In den 1980ern fährt aber auch der gemeinnützige Baukonzern Neue Heimat an die Wand, der soziale Wohnungsbau wird zurückgefahren. Und es ist die Zeit der „Wiedereinsetzung der Architektur als Sprache“, wie der ostdeutsche Architekturprofessor Gerd Zimmermann im Katalog schwärmt. Was letztlich nichts anderes bedeutet, als dass der Bau in erster Linie als Megazeichen wahrgenommen wird. Damit sind wir bei einem Begriff, der sich durch alle Bereiche der Ausstellung zieht: Postmoderne. Ausstellung und Katalog bleiben allerdings eine scharfe Definition schuldig. Ihr Begriff dreht sich um die Frage, welche Rolle die Zeichen des Historischen beim Bauen spielen. Zimmermann fährt eine lange Reihe exklusiver Bauten auf, bei denen man die Primärfunktion des Bedeutungentragens noch nachvollziehen kann. James Stirlings Wissenschaftszentrum Berlin (1979) etwa, das Schinkels Altes Museum ironisch zitiert. Armando Kaczmarczyk, ein zeitgenössischer Kritiker, nannte dieses bedeutungsvolle Styling der neuen Bauten damals die „christdemokratische Postmoderne“, eine Architektur also, die auf politischen Imagegewinn aus ist.
Ökologisch gedacht
Was aber schaffen die äußeren Zeichen für ein Surplus, wenn Leute in den Gebäuden wohnen müssen? Das „Wohnregal“ in der Kreuzberger Admiralstraße ist nicht als Megazeichen subversiv, sondern als Möglichkeitsraum für schnödes Leben. Postmodern ist daran nichts. Auch die ökologisch gedachten Frei-Otto-Entwürfe unterlaufen diese banale Dichotomie von Zeichenhaftigkeit und praktischer Funktionalität.
Das berühmte Sibylle-Bergemann-Foto mit dem schwebenden Engels – man könnte es als postmodern-ironisches Barlach-Zitat interpretieren – scheint zunächst irgendwie deplatziert in dieser Ausstellung. Aber dann fallen einem Friedrich Engels’ Gedanken zur Wohnungsfrage des Proletariats ein. Die Eigentumswohnung oder das Eigenheim, meinte Engels, sind kein Weg für die lohnabhängigen Arbeiterinnen. Die 1980er Jahre zeigen im Osten unter der Schicht neohistoristischen Zierrats die Versuche, rationelles Bauen flexibler zu machen, im Westen bei allem postmodernen Schnickschnack ein paar konkret utopische Stadtentwicklungsansätze. Mit diesem Gedanken kann man die Ausstellung verlassen und wieder in die Stadt von heute gehen, sich kritisch umzuschauen.
Info
Anything goes? Berliner Architekturen der 1980er Jahre Berlinische Galerie, bis 16. August
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