„Wer bei meinen Bildern erregt wird, muss zum Arzt gehen“, sagte kürzlich der Maler Martin Eder angesichts einer Kritik, die ihm „brutale Pornografie“ vorwarf. Eder benutzt in seinen Bildern die ikonografischen Muster des süßlichen Kitsches, auch des Erotik-Kitsches, um etwas ungeschminkt Reales dahinter sichtbar zu machen. Das süße Kätzchen vom Abziehbild ist bei Eder ein Tier. Der Film Touch Me Not der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie zeigt – im Wortsinne – unverschämt reale nackte Körper, Genitalien, Menschen beim Sex. Die künstlerischen Attitüden des Malers und der Regisseurin sind verschieden, aber der Realismusanspruch ist bei beiden ausgeprägt. Und: Der Pornografievorwurf ist hier wie da absurd.
Der Mensch ist nackt
Kommt „harter“ Sex ins Spiel, geschieht das in der Popkultur meist als Abklatsch von etwas schaurig-schön „Bösem“. Filme wie Fifty Shades Of Grey bringen es fertig, aus ehemals „kinky“ SM-Sex eine kitschig-romantische Story zu designen. Das tatsächlich Harte, „Böse“, weil im psychologischen Sinne Sadistische oder Masochistische, also Schmerzvolle, Gefährliche kompensatorischer Sexualität wird zu einem popkulturellen, kitschigen Zeichen, das nicht einmal die Illusionen konventioneller Liebesklischees in Frage stellt.
Touch Me Not ist ein formal ungewöhnlich wagemutiger, von vielen Kritikern provokant genannter Film, der zu deren und des Publikums Überraschung den Goldenen Bären der 2018er-Berlinale bekam. Der Jury-Vorsitzende Tom Tykwer lobte und prämierte mit ihm allerdings einen Film, der in einem ganz unprovokanten Gestus daherkommt. Er scheint sowohl die heute allgemein akzeptierten romantischen als auch die „kinky“ Klischees des Liebens, der Körperlichkeit, der Lust zu ignorieren.
Besetzt ist Touch Me Not mit professionellen Schauspielern und Schauspielerinnen und mit Menschen, die als sie selbst auftreten. Aber auch die Profis spielen keine Rollen, sondern sind in ihrer eigenen Haut. Die Kulissen wirken zufällig oder fehlen ganz. Die Kostüme auch, denn sie bedeuten hier nichts. Bewegen sie sich in öffentlichen Räumen, sind die Leute halt bekleidet. In diesem Film zeigen sich die Menschen erst, wenn sie nackt sind. Sein Thema ist die menschliche Sehnsucht nach der gegenseitigen „Anerkennung des Körpers durch Berühren“, wie der Kritiker Ekkehard Knörer es ausdrückte.
Wer uninformiert in den Film geht, wird erst einmal glauben, einen nicht fiktionalen, wenngleich inszenierten Essayfilm zu sehen. Die Regisseurin bezieht sich als Person in das Geschehen ein, tauscht schließlich mit einer Protagonistin die Rollen. Wir sehen Displays, Filmtechnik, Kameraleute, die durchs Bild laufen. Damit ist das dokumentarische Setting über seine Grenzen gedehnt. Die Zuschauer befinden sich auf beiden Seiten des Spiegels. Die Protagonisten spielen weder eine fremdbestimmte Rolle noch werden ihre Leben oder ihre Probleme „dokumentiert“. Sie handeln. Die Regisseurin ist eine von ihnen.
Die von den professionellen Schauspielern Laura Benson und Tómas Lemarquis dargestellten Figuren sind Menschen, die die Erfüllung der Sehnsucht nach „Anerkennung des Körpers durch Berühren“ nicht erleben können. Sie kompensieren das mit passivem Voyeurismus. Die dafür verantwortlichen frühen Verletzungen sind nur erahnbar.
Die beiden anderen wichtigen Akteure des Films sind Christian Bayerlein, ein an spinaler Muskelatrophie leidender Webentwickler, und die Keramikerin Grit Uhlemann – ein Liebespaar. Sie leben selbstbewusst ihre sexuelle Beziehung. Ihr Problem sind die gesellschaftlichen Konventionen, die im offenen Ausleben und Darstellen einer solchen Beziehung ein Tabu verletzt sehen.
Ein Pressetext meint, im Film einen utopischen Ort dargestellt zu sehen, „... wo Körper nur noch Körper sind und nur das Begehren zählt“. Wäre das nicht eher ein Fluchtpunkt, in dem sich eine Sehnsucht nach erlösender Bewusstlosigkeit, nach totaler Kompensation erfüllte? Christian, der schwerbehinderte Liebhaber, will aber mehr und erlebt es: „Glückseligkeit“. Glückselig kann der Körper allein nicht sein. Und glückselig können wir ohne den Körper nicht sein. Glückselig sind wir in einem Moment der beglückenden Harmonie von Sinnlichkeit, Sinn und Emotionen.
Wir Menschen sind niemals nur Körper, wir sind immer Körper, Geist und Seele, untrennbar in einem. Aber wir Menschen sind, kaum in die Welt gekommen, in der Gefahr, auseinandergerissen zu werden. Die einen hassen ihren Körper oder vergötzen ihn. Die anderen wollen nur noch Körper sein, die unerreichbare Glückseligkeit durch die Lust des Körpers ersetzen oder den Schmerz des Menschen im Schmerz des separierten Körpers betäuben.
„Sag mir, wie du geliebt wurdest, und ich sage dir, wie du liebst“, zitiert Adina Pintilie im Film einen Therapeutenspruch. Der Film schürt nicht die Hoffnung, dass ein Therapeut diese Frage beantworten könnte. Er konfrontiert uns mit dieser Frage, die wir uns beantworten müssen, wenn wir uns nicht selbst im Stich lassen wollen.
Am Schluss des Films begegnen sich Laura und Tómas. Sie sind nah beieinander, ein Berühren scheint möglich. Beachtung und Anerkennung bekommen wir erst wirklich, wenn wir sie auch geben können. Wenn man berührt werden will, muss man berühren. Wer nicht berühren kann, kann nicht berührt werden. Der Film sagt uns: Wir können es versuchen, solange wir leben.
Info
Touch Me Not Adina Pintilie Rumänien, Deutschland u. a. 2018, 123 Minuten
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