Parmesan und Partysan

Linke Strategie Vor dem Zerriebenwerden zwischen SPD und AfD warnt Georg Fülberth die LINKE in Nr. 43 des FREITAG. Doch ist eine "rationale Russlandpolitik" wirklich der einzige Ausweg?

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Opa wird schon wunderlich / immerfort entsinnt er sich... Ja, der gute Franz Josef Degenhardt mit seinen "kraftvollen Liedern" (taz). Stammt die Textzeile überhaupt von dem? Egal. Damals, also zur Blütezeit von Degenhardt, Hannes Wader und Co., fürchtete man sich noch vor Protestsängern, nicht vor Protestwählern. Und Georg Fülberth war einer meiner Lehrer am Politikwissenschaftlichen Institut der Philosophischen Fakultät an der Philipps-Universität Marburg (klingt kompliziert und war es wohl auch). Lang, lang ist's her (doppelseufz). Sogar den altlinken Freidenker Wolfgang Abendroth habe ich selbst noch als amtierenden Ordinarius erlebt. In seinem grellweißen Oberhemd erinnerte der mich immer an einen Chefarzt auf Visite. Ein Vergleich, der dem aufrechten Streiter für eine Demokratisierung der Hochschulen vermutlich Unrecht tut.

Von Abgehängten und Besorgten

Politologen galten damals als die Schmuddelkinder unter den Akademikern, die man - außer an der Uni - nur ungern mitspielen ließ. Nur Diplompädagogen standen in der Hierachie der "Studierten" in noch geringerem Ansehen. Ja, was hat er denn gelernt? Politikwissenschaft, Politikwissenschaft, Politikwissenschaft... Sonst nichts. Die "Blätter für Berufskunde" hatten gelogen. Von wegen "beste Berufsaussichten". Nach Abschluss der Selbstrekrutierungsphase der Hochschulen konnten Politologen sehen, wo sie unterkamen. Vielleicht gab es deshalb unter den Politikstudenten und perspektivlosen -absolventen so viele Wutbürger und Radikale (inklusive offenen oder klammheimlichen RAF-Sympathisanten). Das hatte schon auch etwas Pegida- oder AfD-Mäßiges. Ein jeglichges hat eben seine Zeit.

Wer sein Lehrerstudium nicht rechtzeitig beendet hatte, war übrigens auch nicht viel besser dran als der gemeine Politologe. Überhaupt stand "Aufstieg durch Bildung" gegen Ende der 1970er Jahre ganz plötzlich nicht mehr auf der gesellschaftspolitischen Prioritätenliste. Die sozialdemokra- tischen Bildungsreformen mit Rahmen- richtlinien Gesellschaftslehre, Riesengesamtschulen und reformierter Oberstufe, die man nach heutiger Beurteilung besser per Mouseclick "übersprungen" hätte, trieben das Bildungsbürgertum auf die Barrikaden und der CDU in die Arme, deren Protestwähler eine SPD-Hochburg nach der anderen schleiften. Erst kamen die "Schwemmen" (Akademikerschwemme, Lehrerschwemme, Schüler- und Studentenschwemme etc.). Dann begann das große Sparen. Der Staat wurde schlank. Das in Beton gegossene Volksvermögen verluderte. Die Privatschulen boomten und der Homo oeconomicus - bald überwiegend nur noch Bachelor, Master und vor allem Praktikant - prostituierte sich mit autosuggestiver Fröhlichkeit (Tschakka!) im Angesicht der ihn erwartenden "Challenges" auf dem Markt der ebenso vielfältigen wie unsicheren Möglichkeiten. Dort erfuhr er, oft in Gestalt von Unternehmensberatern und Motivationstrainern, dass selbst die Hölle eine wahnsinnige Steigerungsform kennt: Das positive Denken inkl. positiver Psychologie. Und Jürgen Höller. Und es entstand die stimmungsmäßige Grundlage für die heutige "Bildungspanik" der Mittelschicht, von der Heinz Bude so anschaulich zu erzählen weiß und die vor allem ein Ausdruck ist für die erneute Spaltung unserer Gesellschaft in Oben und Unten, Arm und Reich. Die auf diese Weise Abgehängten, aber auch die um ihre Zukunft Besorgten vereint nun das dringende Bedürfnis, es denen mal so richtig zu besorgen bzw. diejenigen mal gehörig hinzuhängen, die man für die Verantwortlichen dieser Entwicklung hält.

"Parmesan und Partisan / Wo sind sie geblieben? / Parmesan und Partisan / alles wird zerrieben ", bespöttelte einst der Satiriker und bekennende Oberhesse Matthias Beltz (verstorben 2002) die nicht immer gelungenen Versuche der Gesellschaftsveränderer von damals, diesseits und jenseits der ideologischen Barrikaden beruflich Fuß zu fassen oder wenigstens irgendwo "anzukommen". Prophetische Worte. Wenn der hartkrümelige italienische Würzkäse mal für Toscana-Fraktion (= hedonistische Modernisierer à la Schröder, Fischer und Schily) stehen darf, während der Partisan den eher humorlos parteikadernden oder kleinbürgerlich-verbissenen Weltverbesserer zu verkörpern hätte, der aber durchaus nicht immun dagegen war, vom millitanten Friedenskämpfer oder waldverteidigenden Startbahngegner zum geschmeidigen Realpolitiker und Wirtschaftsförderer Marke Daimler Benz, pardon: Winfried Kretschmann bzw. vom Partisan zum Partysan zu mutieren, ist zur Persönlichkeitsentwicklung(sstörung) zwischen Ideal und Realität eigentlich fast alles gesagt. Eines schickt sich nicht für alle! / Sehe jeder, wie er's treibe / Sehe jeder, wo er bleibe / Und wer steht, dass er nicht falle! Dass Charakter und Karriere nicht immer gut zusammenpassen, wusste schon der alte Goethe. Die Politikwissenschaftler, nur um das Zeitgemälde abzurunden, haben inzwischen auch endlich ihren Platz in der Bildungsgesellschaft gefunden. Kein Hörfunk-Aktulitäten-Blabla, keine Fernseh-Talkrunde und kein Stehtisch bei Phoenix, wo diese Spezies nicht mittlerweile die Allerwelt erklärt und beim Einordnen auch noch so banaler Ereignisse behilflich ist. "Schönen guten Morgen, schönen Dank und schönen Tag noch, Herr Professor X von der Hochschule Y in Z...". Man möchte es eigentlich nicht mehr hören.

"Generation Mitte" in Mittelerde

Georg Fülberth liefert uns da gleich mal ein treffendes Beispiel für das Niveau heutiger Politikberatung. Die Zuwanderungsfrage als "abgenagte Knochen" zu bezeichnen, in die die LINKE sich verbeiße, weil viele ihrer alten Protestwähler sich enttäuscht der AfD zugewandt hätten..., also ich weiß nicht. Und Zuwanderung sei doch gar kein Thema mehr, weil dank dichter Grenzen niemand mehr komme... Also, lieber Herr Fülberth, noch stehen da Hunderttausende weder sprachlich noch beruflich oder kulturell Eingliederungsfähige vor ihren Wohncontainern herum und warten, dass "den Verantwortlichen" mal was zur "Jahrhundertaufgabe" ihrer Integration einfällt. Wo sollen diese Menschen und die Fünfhunderttausend, die jährlich noch dazukommen werden, denn wohnen, zur Schule gehen oder ihren Lebensunterhalt verdienen? Und was werden wohl die gesellschaftlichen Folgen sein, wenn eine runde Million Langzeitarbeitslose, mindestens zweieinhalb Millionen trickreich aus der Arbeitslosenstatistik Herausgerechnete, Hunderttausende von Wohnungssuchenden und Wohnungslosen ohne Migrationshintergrund, die Eltern der deutschen Minderheit in Grundschul- oder großstädtischen Gesamtschulklassen, die sich keine teuren Privatschulen leisten können, die Mehrheit der leider nur gesetzlich Krankenversicherten usw., usw. sich noch deutlicher bewusst werden, dass lange Warteschlangen- und Bearbeitungszeiten bei Ämtern, Mangel an bezahlbarem Wohnraum, steigende Mieten, desorganisierter Unterricht, endlos vertagte Arzttermine etc. sehr wohl etwas mit den Millionen zu tun haben, die unser vorher schon nicht reibungslos funktionierendes, weil kaputt gespartes Sozialsystem nun noch obendrauf bekommt? Und was erst, wenn die vielen ehrenamtlichen Helfer, die derzeit das "Wir-schaffen-das" notdürftig einzulösen versuchen, was die Hauptamtlichen eben nicht schaffen, allmählich die Lust verlieren, weil die zur Verfügung stehenden Mittel nie so bemessen werden, dass sie zur Befriedigung auch nur der elementarsten Bedürfnisse der Zuwanderer ausreichen?

Die Beobachtung trifft zu: Arbeiter und Erwerbslose wenden sich aus Enttäuschung über die fehlenden Durchsetzungsmöglichkeiten der LINKEN bei der Lösung ihrer Alltagsprobleme zunehmend ab und einer AfD zu, deren Durchsetzungsmöglichkeiten auch nicht größer sind. Nun gut, die typischen Protestwähler ist man damit los. Gewonnen hat man bei den urbanen akademischen Mittelschichten, darunter zunehmend auch junge Menschen. Doch von denen weiß man , dass die alltäglichen Sorgen der Abgehängten und Ausgegrenzten ihnen nicht allzu sehr auf den Nägeln brennen. Die "Generation Mitte" sieht die ungleiche Verteilung der Vermögen mehr als grundsätzliches (akademisches) Problem an, das mit den eigenen Lebensbedingungen - Wohlergehen dank selbst erbrachter "Leistung"- erst mal nicht ganz so viel zu tun hat.

Die schwierige Aufgabe der LINKEN besteht derzeit darin, den populistisch nicht verführbaren Kern der Protestwählerschaft und diejenigen weiterhin an sich zu binden, die so realistisch sind, nicht immer wieder auf sozialdemokratische Schalmeienklänge herein zu fallen. Zusätzlich soll jetzt den Neu-Linken aus den "akademischen urbanen Mittelschichten" eine dauerhafte politische Heimat geboten werden. Die Kipping-Fraktion möchte dies durch einen weniger konfrontativen Kurs gegenüber SPD und Grünen tun, der rot-rot-grüne Machtoptionen offen hält, während die Wagenknecht-Fraktion sich hiervon - wohl zu Recht - wenig verspricht, weil ständige Zugeständnisse gegenüber "bürgerlichen" oder sogar "wirtschaftsfreundlichen" Positionen sowohl der SPD und als auch den Grünen zuletzt nur Profilunschärfen und Stimmenverluste eingetragen haben. "Mittelerde" unter dem Druck einer notwendigen Neuausrichtung der LINKEN mit sozialdemokratischen Positionen aufzupolstern, dürfte zu wenig sein. Zur Sicherung der recht geringen Zugewinne bei der letzten Bundestagswahl und zur Eroberung weiterer Wähleranteile bedarf es zusätzlicher Schwerpunkte bzw. Konzepte zur Lösung sozialer Zukunftsfragen, zu denen der SPD der Mut fehlt und die die AfD schon aus ideologischer Borniertheit gar nicht erst ins Visier nimmt. Gelänge dies, wäre Fülberths Prognose, dass die LINKE mangels eigenen Profils zwischen der SPD als starker Mitte-Links-Opposition und der "einzig glaubwürdigen Protestpartei" AfD "als fünftes Rad am Wagen" zerrieben würde, keineswegs zwingend.

Da könnte Andrea Nahles noch so sehr auf den Putz hauen: Als Partei der Armen und der von Armut Bedrohten ist die SPD ebenso verbrannt wie als Opposition gegen eine Militarisierung der Außenpolitik. Hieran immer wieder zu erinnern und die sozialdemokratischen Feinjustierungen an irgendwelchen "sozialen Ungerechtigkeiten" als überwiegend wirkungslos zu entlarven, dürfte der LINKEN nach wie vor zu einem deutlichen Profil verhelfen. Allerdings nur, wenn man diesen Aspekt energisch und nicht nur halblaut vorträgt, um das Betriebsklima für eine vage Zukunftsoption auf eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit nicht endgültig zu vergiften.

Fülberths Rat, das Thema "rationale Russlandpolitik" - was immer das heißen mag - zur Profilschärfung zu nutzen, um gleichermaßen den Nerv von Regierungskoalition und größter Oppositionspartei zu treffen, ist so einleuchtend nicht, wie er sich spontan anhört. Denn mit Außenpolitik sind traditionell keine Wahlen zu gewinnen. Das Thema lässt zudem "die rechte Flanke offen"; will heißen: Auch die AfD steht für eine "gemäßigte" Russlandpolitik. Ohnehin erscheint die LINKE laut ZDF-Politbarometer gemeinsam mit der AfD regelmäßig in der Schmuddelecke für Extremisten, mit Sympathiewerten, die kaum besser sind als die der Blauen. Dem politischen Gegner einen Vorwand zu liefern, die LINKE ständig neu in eben diese Ecke zu stellen, wäre verhängnisvoll. Und das Thema Russland eignet sich weniger dazu, den Nerv des politischen Gegners zu reizen, als den potenziellen Wählern damit gründlich auf die Nerven zu gehen. Man weiß schließlich nie, was Putin sich noch einfallen lässt, um seinen Großmachtbuddy Donald Trump an Unberechenbarkeit zu übertreffen. Eine sichere Bank für stabile Sympathiewerte ist die "rationale Russlandpolitk" jedenfalls nicht.

Wenn die Akzentsetzungen der LINKEN überzeugen sollen, so konzentriert man sich besser auf den Markenkern der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Da gibt es nicht nur genügend neue Zukunftsfragen, sondern auch - zumindest auf der kommunalen Ebene (aber auch dort werden schließlich Wähler und Wahlen gewonnen!) - Strategien gegen "mangelnde Durchsetzungsmöglichkeiten". Das Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land wäre eines dieser wichtigen Themen. Inklusive neuer Konzepte zur Regionalentwicklung und der aktuellen Forschungsergebnisse zur Armut auf dem Lande. Und als Antwort auf die die Frage, wie man konkrete Verbesserungen für die Menschen sogar dann erreicht, wenn man nicht mitregiert, fielen mir die Stichworte Bürgerbeteiligung und Kümmererpartei ein. Das wären nur einige der Akzente, mit denen die LINKE sich durch alle Parteigliederungen glaubwürdig profilieren und perspektivisch auch in der Wählergunst aufsteigen könnte. Zur "Volkspartei" dürfte es zwar dennoch nie reichen. Aber das Zerriebenenschicksal der "hedonistischen Modernisierer" oder der Partysanen jeglicher Couleur bliebe der LINKEN auf jeden Fall erspart.

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Geschrieben von

Mullstaaman

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