Der zweite deutsche Kniefall

Böhmermann Gut 35 Jahre nach Willy Brandts spontaner Demutsgeste ist es Angela Merkel, die mit ihrem totalen Kniefall vor Erdoğan einen politischen Skandal auslöst

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Der zweite deutsche Kniefall

Bild: Sean Gallup/Getty Images

Sonntag, der 10. April 2016. Wer hätte das gedacht: Fünf Gäste sitzen bei Anne Will, unter Ihnen der weitsichtige Kabarettist Serdar Somuncu und das CDU-Urgestein Elmar Brok. Die Meinungen zu Böhmermanns Schmähgedicht gehen auseinander, das im Vergleich zu extra 3 noch mal eine Schippe drauflegt und damit praktisch eine diplomatische Krise ausgelöst hat, die wahrscheinlich nicht nur in Ankara zu Überstunden in den Regierungskreisen geführt hat. Doch dass Jan Böhmermann für sein Schmähgedicht belangt wird, das glaubt an diesem Abend so richtig niemand, außer der Vorsitzende der Union Europäisch-Türkischer Demokraten, der Erdoğan eigentlich ziemlich gut findet. Mit der Unumstößlichkeit eines Abgeordneten, der seit über 30 Jahren im EU-Parlament sitzt, gibt sich Brok hingegen überzeugt: Aufschrei: ja, ein Verfahren gegen Böhmermann wird man aber nicht zulassen. Brok scheint sich sicher. Ob er damit gerechnet hat, dass Angela Merkel am 15. April nun doch die Entscheidung zur Zulassung der Strafverfolgung gegen Böhmermann bekannt geben wird?

Menschenrechte: Nur wenn's passt

Mit der Zulassung der Klage gegen Jan Böhmermann zeigt die Regierung Angela Merkel gleich mehrere Dinge. Zum einen offenbart sie ganz schlicht und ergreifend die allgemeine Haltung der deutschen Außenpolitik, wenn es etwa um Menschenrechte und Pressefreiheit geht. Der Kontext muss schon stimmen, wenn die Bundesregierung im Ausland auf diese Rechte pocht. Im Falle der Golf-Despotie Saudi-Arabien etwa stimmt dieser Kontext nicht. Allein durch Waffengeschäfte mit dem absolutistischen Regime macht die Bundesrepublik und seine Waffenhersteller jedes Jahr viel Umsatz. 2015 exportierte Deutschland Waffensysteme im Wert von insgesamt 270 Millionen Euro, damit liegt Saudi-Arabien immerhin auf Platz 7 des Waffenexport-Rankings. Deutsche Bomben werden im Jemen-Krieg gegen Zivilisten und Kämpfer eingesetzt, die keinen sunnitisch-wahhabitischen Gottesstaat wollen, die ihn die äußeren Invasoren aufdrängen wollen. Auch in der Türkei scheint der Kontext für kritische Kommentare seitens der Bundesregierung nicht gegeben zu sein. Gegen jegliche Vernunftappelle aus allen Winkeln der Europäischen Union hat Angela Merkel einen Flüchtlings-Deal mit der Türkei geschlossen, welcher der Türkei viele Milliarden Euro einbringt, den Flüchtlingen aber keinen sicheren Transport oder gar irgendwelche Rechte. Die Türkei ist nun ein Partner, für Zurechtweisungen ist kein Platz.

Damit wird der klassische Bock mal wieder zum Gärtner gemacht. Denn hier wird noch etwas anderes deutlich: Entgegen sämtlicher rhetorischer Beteuerungen durch Angela Merkel selbst oder Mitglieder ihrer Bundesregierung hat die Bekämpfung von Fluchtursachen keine Priorität. Priorität hat die Bekämpfung von Flüchtlingen. Denn auch Claus von Wagner stellte in der Anstalt unlängst verdutzt fest: Je mehr Flüchtlinge herkommen, desto sicherer werden ihre Herkunftsländer, wenn man nach dem Tempo geht, mit welcher die Bundesregierung wackelige Maghreb-Staaten für sicher erklärt und Geflüchtete wieder ins Flugzeug dorthin setzt. Und wie sonst ist es zu erklären, dass man eine der Hauptfluchtursachen der Region, namentlich Recep Tayyip Erdoğan und seinen Militärapparat einschließlich des berüchtigten Inlandsgeheimdienstes MIT, zum neuen Hauptpartner bei der „Bewältigung der Flüchtlingskrise“ erklärt. Doch nicht nur in der Südosttürkei lässt Erdoğan Städte in Grund und Boden schießen. Auf diese Weise wurde Cizre innerhalb weniger Wochen fast vollständig zerstört und Fotos der Stadt erinnern an syrische Kriegsschauplätze wie Aleppo und Homs. Spätestens als Anfang des Jahres absehbar war, dass kurdische Kräfte den Grenzstreifen zwischen Türkei und Syrien bald abgesichert haben werden, griff die Türkei auch noch aktiv in den syrischen Bürgerkrieg ein und verursacht neue Flüchtlingsbewegungen, von der passiven Unterstützung dschihadistischer Gruppen in Form von medizinischer Versorgung, logistischer Unterstützung, Waffenlieferungen und finanziellen Hilfen mal ganz abgesehen. Erdoğan sieht sich selbst als über dem Gesetz stehend, was sein Handeln sowohl im nationalen als auch im internationalen Rahmen mehr als deutlich zeigen. Das schlimmste: Alle Akteure auf der Weltbühne lassen es ihm durchgehen.

Kühle Berechnung?

Was also muss Angela Merkel geritten haben, als sie sich dazu durchgerungen hat, dem Ansinnen des türkischen Präsidenten nach Strafverfolgung Jan Böhmermanns nachzugeben? Was ihr außenpolitisch etwas Ruhe einbringt – hinter den Kulissen dürfte hart verhandelt worden sein – lässt im Inland die Unterstützung für Merkel weiter fallen. In einer Liveumfrage vom 15. April gaben 96% der Nutzer an, Merkel habe sich gebeugt. Am Ende war es vielleicht doch wieder die eiserne naturwissenschaftliche Rationalität der Dr. Angela Merkel, die vielleicht schlicht die Prioritäten abgewogen hat, und sich dann bewusst gegen Böhmermann entschied. Damit zeigt sie noch etwas anderes: Noch nicht mal im Inland können Künstler und Komiker sicher sein, von der Presse- und Satirefreiheit geschützt zu sein.

2018 soll der Ausländerbeleidigungsparagraph abgeschafft werden. Jan Böhmermann hat davon freilich nichts mehr.

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